Bel Canto (German Edition)
Perspektive des Gangs vor uns. Treten wir ein in eine seiner Türen, setzen wir ihrenFlügel in Bewegung, den Flügel eines auf der Erde landenden knarrenden Vogels, um daran die Anatomie des Fluges studieren zu können. Treten wir mit der Putzfrau dort ein, mit diesem schmutzigen Geschöpf, die vertraute fremde Gegenstände berührt, als ob sie in enger Beziehung zu deren Besitzern stünde.
Wir sind im Zimmer Doktor Arnošts, der ihr ein Extratrinkgeld gibt, damit sie seine Bücher und Papiere nicht durcheinanderwirft. Vor uns auf dem mit einem grünlichen Tuch im Bierdeckelmuster bedeckten Tisch liegt:
Opera completa di Niccolò Machiavelli. Milano. Ernesto Olivo 1858 . Endlich der Name für den Helden! Ernesto Olivo! Doch du weißt, man muss den Namen des Helden immer ändern, damit es zu keiner Klage vor Gericht kommt.
Aber den Namen des Helden haben wir schon, sagst du, denn von ihm handeln schon zweiundzwanzig Seiten! Leser! Verlass mich nicht! Ich werde dir alles erklären, sei geduldig! Der Name des Helden, über den wir sprachen, war echt, und deswegen ist es rundweg unmöglich, ihn weiter zu benutzen; vorläufig haben wir nichts über ihn gesagt, warum sollte er, wenn er das hier liest, verärgert sein. Und weiter? Doch wir wollen alle seine Geheimnisse erzählen! Und dann werde ich dir aufrichtig sagen, den Schriftsteller erfreut nicht der Held, der im Buch seinen bürgerlichen Namen trägt, das kann ihn vielleicht einen Moment freuen, entschließt er sich aber, mit ihm ein wirklich mutiges Experiment anzustellen, dann will er ihm auch den dazu passenden Namen geben.
Ernesto Olivo? Stellen wir ihn in die Perspektive: Ernesto Olivo Sforza. Ernesto Oliva Sforza Sanseverino. Ernesto Olivo Sforza Sanseverino d’Este.
Schau dich schnell um, Leser, schnell, denn fünfhundert Jahre vergehen schwindelerregend: schau dich um, ob nicht hier irgendwo im Kehricht der Putzfrau ein Brief mit der Marke liegt, die das Portrait eines der Verwandten dieses berühmten Geschlechts zeigt? Ach, du sammelst keine Briefmarken? Ich auch nicht, aber diese Marke schaue ich mit unheimlichem Vergnügen an. Steht eine Adresse auf dem Couvert?
Ein klangvoller Name: Sanseverino, Stendhal benutzte ihn schon. (Ohne dass ich wagen würde, meinen erbärmlichen Federkiel mit seiner Meisterfeder zu vergleichen.)
Unser Held ist ein einfacher Bürger, Ernesto Olivo, Sohn eines reichen Geschäftsmannes aus Kolín * am Rhein, am Main, an der Elbe? Wir müssen doch nicht nur den Namen ändern, sondern auch den Ort! Sohn eines reichen Weinhändlers? Eines Bankiers? Nein, Sohn eines reichen Lederhändlers. Er liefert Schuhleder für die Armee, hat so riesige Gewinne, dass Sohn Ernesto sich den Beruf auswählen kann. Jurist, Advokat könnte der schöne Ernesto Olivo sein, nach ihm würden sich alle Kolíner Schönheiten umdrehen, genau so wie nach dem Vater. Man sagte: der schöne Leone Olivo und man sagt: der schöne Ernesto Olivo.
Aber die Olivos haben andere Dinge im Sinn als Frauen, obwohl beide durch ihre Abenteuer bekannt waren, auf die sie freilich auch stolz waren und gewillt, deren Anzahl eher zu vergrößern als zu verkleinern. Die Olivos waren Ehrgeizlinge. Der Vater hat durch seine Schlauheit, seinen Reichtum und seine Eleganz Bedeutung erlangt. Der Sohn wollte eine glänzende politische Position erlangen. Das war in Kolín am Rhein, vielleicht an der Elbe – allgemein bekannt.
Warum also studierte er nicht Jura, eine Advokatur? Die Familie in Kolín fragte sich: Was ist das für ein Einfall, Philosophie zu studieren!? Ja, wir hörten, aus Juristen oder aus Ärzten wurden Politiker, wenn Sie wollen, auch aus Staatsbeamten, aber dass ein Philosoph Politiker geworden wäre, hörten wir nicht. Wer studiert Philosophie? Die Kinder von Dorflehrern. Der Sohn Leone Olivos wird Dorflehrer, lachten die jungen Frauen, als würde sie dabei jemand kitzeln, im Geist aber waren sie beleidigt, dass Ernesto nicht Jura studiert, um sich einmal in Kolín oder in der Hauptstadt niederzulassen und eine von ihnen zu heiraten. Ernesto dachte von ihnen, alle würden ihn durch ihr Lachen ermuntern, sie ein wenig zu kitzeln, damit sie sich wehren könnten – im Ganzen jedoch hatte er bei ihnen keine großen Erfolge, vielleicht bemühte er sich nicht genug um sie?
Ernesto Olivo studiert Philosophie! Dass der Vater ihm das erlaubt hat! Die Mitschüler von Ernestos Vater, deren Söhne Medizin studierten, die meisten freilich Jura, lachten: ihre Söhne
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