Bel Canto (German Edition)
lesen sollen und die sie heimlich verschlingen.
Die schwarzweißen Streifen der Markisen, herabgezogen über die Tische des Zentralcafés, werfen auf einen Teil des Gehsteigs Schatten, schützen das Eis, den Teint der jungen Damen und die Korpulenz der Herren vor Sonne.
Ernesto Olivo ist schlank und bei der Mahlzeit denkt er immer daran, nicht dick zu werden, hält sich auf seine Erscheinung mehr zugute als viele junge Damen.
Auch an der Buchhandlung sind die Markisen herabgezogen, damit die farbigen Buchumschläge nicht ausbleichen, damit die frischen Farben der Liebesgefühle, die viele der von den jungen Damen geliebten Bücher füllen, nicht zerstört werden. Ihnen wird nicht in den Sinn kommen, dass sie sich mit diesen ranzigen, in das Eis gemischten Nüssen, den Magen verderben könnten; zum Glück hat die Mehrheit der jungen Mädchen einen gesunden Magen. Die Sonne brennt auf die Markisen, die die klassischen Werke der Literatur beschatten. Die Buchhändler wissen, es darf nicht zu heiß sein, wenn wir nachdenken wollen.
Wie stolz wird Ernesto sein, wenn plötzlich sein Buch in der Auslage dieses Geschäfts liegen wird, die gedruckte Dissertation. Man wird darüber sprechen. Ein paartörichte junge Damen werden das Buch kaufen. Ach, sie werden es nach den ersten zehn Seiten weglegen.
In einer der Auslagen sieht man neben Proben schönen Briefpapiers die Muster für Visitenkarten, die Anzeigen von Verlobungen, Hochzeiten, gesellschaftlichen Ereignissen. Hier ist die Visitenkarte des Ministers, mit dessen Neffen die schöne Giulia H., die gerade auf der Promenade erschienen ist, verlobt war.
Sie geht schnellen Schrittes, mit einem Lächeln die Grüße erwidernd. Denn wenn wir auf der Promenade schnell gehen, werden wir mit Interesse verfolgt, gehen wir langsam, ermüden die Augen, die uns folgen, und nehmen schließlich den Gegenstand der Bewunderung als alltäglich wahr – so ihr Prinzip. Deshalb treibt sie ihre verheiratete Schwester an, schneller zu gehen.
Ernesto hat keine Zeit, einem wenn auch schönen Mädchen zu folgen und Giulia hat keine Zeit, sich nach jemandem zu verzehren, auch wenn er ein schöner Mann ist. Sie hat mehr Verehrer, als nötig. Verehrer, das Wort, das ältere Damen gebrauchen: Verehrer; keinesfalls Bräutigam!
Giulia weiß, wie man über sie spricht, darum geht sie so schnell auf der Promenade, weil dann alle ihren Auftritt beachten. Und wie jeder von uns geneigt ist, seine Misserfolge den Fehlern anderer zuzuschreiben, schreibt sie ihre unsichere gesellschaftliche Stellung nach dem Tod der Mutter dem Verhalten ihres Bruders zu. Hätte ihr Bruder nicht bei ihren Verehrern Darlehen aufgenommen, würde sie einer von ihnen geheiratet haben. Aber in Wirklichkeit genoss Giulia nach dem Tod der Mutter zu viele große Freiheiten; sie benahm sich wirklich so, dass es kein Wunder war, dass ihre Verlobung mit demNeffen des Ministers gelöst wurde. Anselmo liebt sie heute noch so, dass er die ganze Nacht unter ihrem Fenster auf- und abgeht. Davon weiß jeder, aber Anselmos Eltern sind nach dem Brief, den sie von Giulias Gesellschafterin erhalten haben, unerbittlich. Giulia sagt, der Brief wurde aus Rache geschrieben, aber wir müssen hier sagen, was da geschrieben wurde, war die Wahrheit.
Giulia, obwohl verlobt, kokettierte weiter mit jedem jungen Mann, den sie traf. Es war wirklich nicht nötig, dass ihre künftige Schwiegermutter Giulia nach dem Tod der Mutter einen kleinen Affen schickte, um sie aufzuheitern. Sie brauchte keine Aufheiterung: stundenlang probierte sie vor dem Spiegel, wie ihr Schwarz steht. Die ganze Stadt war entsetzt, als sie bald darauf im Theater erschien.
Zu Hause hatte sie Bruder und Vater schüchtern und komisch ihren Bräutigam vorgeführt. (Giulia glaubte nämlich, Schauspieltalent zu haben.) Kein Zweifel, ihre Ehe mit Anselmo wäre nicht glücklich geworden. Die Gesellschafterin hatte geschrieben, Giulia sei mit einem Herrn V. in einer geschlossenen Kutsche gefahren. Jeder weiß, dass V. der bekannte Prasser und Wüstling Vittorio ist. Es ist kein Wunder, dass die Eltern Anselmos nach diesem Brief die Verlobung gelöst haben.
Giulia hat die Gesellschafterin hinausgeworfen, den kleinen Affen zurückgeschickt und sich dabei unschön über die Mutter ihres Bräutigams, die Gesellschafterin, den Affen und den Bräutigam geäußert. Sie achtete nicht darauf, dass man der Familie des Ministers ihre Worte zutragen würde und diese keine gute Wirkung auf die
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