Bel Canto (German Edition)
Misserfolge selbst verschuldet hat. Im Übrigen hat Giulia einen Plan, der ihr in allernächster Zeit zum Erfolg verhelfen wird.
Ich erwidere Giulia auf die zwei schauspielerischen Auffassungen von Ernestos Persönlichkeit nichts.
Ich erinnere mich an einen sonnigen Sommertag, einen Juli- oder Augustnachmittag, als ich Giulia aus Ernestos Zimmer kommen sah. Ich sehe das vertraute Grün der Kastanien- und Lindenkronen Schatten auf Giulias Gestalt werfen.
Vielleicht waren Giulia und Ernesto wirklich ein Liebespaar, das sich nie ganz vergessen konnte.
An diesem schönen Juli- oder Augustnachmittag sehe ich Giulia aus Ernestos Zimmer kommen. Ich sehe dabei auch den Juli- oder Augustnachmittag vor zehn Jahren, als sie seine Geliebte wurde. An diesen Plätzen – Giulia hat mir das einmal anvertraut.
Ich sehe sie aus seinem Zimmer kommen, immer noch schön, immer noch begehrenswert. Sie ist natürlich vollkommen ruhig, als sie mir ein paar Schritte vor Ernestos Zimmertür begegnet, vollkommen ruhig, als wäre nur eine Angelegenheit zu erledigen gewesen, die ihr Interesse betrifft.
Giulia! Denke nur ich daran, wie es war, als Sie achtzehn waren? Ernesto zweifelte damals nicht an seinem Recht, Sie zu seiner Geliebten zu machen, und je länger ich Sie kannte, Giulia, umso selbstverständlicher war mir, dass man ihm nicht viel vorwerfen kann, wenn dann nicht auch Sie Vorwürfen treffen sollten.
Ich begegne Ernesto auf der Uferpromenade: Er fragt mich, wie es Giulia gehe, ob sie schreibe? Er fragt mich beiläufig, schaut dabei über die Zigarette hinweg auf den »Alpenübergang«. Sein Grundsatz ist, Leute seiner Art dürfen sich nicht mit Gefühlen, für die durchschnittliche Leute Zeit haben, belasten.
Ich muss Ernesto zugestehen, dass er weder über seine ehrgeizigen Pläne noch über seine Enttäuschungen sprach. Er berührt sie nur in entfernten Andeutungen. Sein Gesicht hat sich nicht sehr verändert. In ihm ist nur etwas weniger Härte, ein bisschen Befangenheit und ganz beherrschte Trauer.
Nur manchmal lässt sich Ernesto anmerken, dass er das Verlangen spürt, seine Position zu verteidigen. Zum Beispiel bemerkt er: unsereiner, den hunderttausend Leute lesen – nämlich seine Artikel; er hoffte noch ein paar Jahre, dass seine Laufbahn nicht beendet ist.
Ich traf mich mit ihm eines Nachmittags, als die Zeitungen die sensationellen Nachrichten über die Ereignisse in Europa brachten. Wir trafen uns in dieser Zeit erstaunlich oft, als ob uns ähnliche Gedanken an gleiche Orte treiben würden. Davor gab es Zeiten, wo wir uns ein halbes, auch ein ganzes Jahr nicht begegnet sind.
Ich schlug vor, wir könnten zusammen in eine kleine Gastwirtschaft gehen. Wir saßen dort bei einem schlechtenKaffee, Ernesto wie immer schweigsam, mit einer Zigarette im Mund, mit dem Blick irgendwohin nach draußen. Ich war mir sicher, er schaut auf die »Alpengipfel«. Er schaut dorthin wie ein ferner Beobachter, der einst dachte, sie zu erreichen. Seine Augen glitten über die am Garderobenständer hängenden Zeitungen.
Ich wollte höflich sein, wollte Ernesto Freundschaft zeigen und habe schüchtern (weil ich wusste, es ist nicht die ganze Wahrheit) gesagt: »Jetzt, Doktor Olivo, verschaffen sich vielleicht einige der Gedanken, die Sie Ihr ganzes Leben lang vertraten, Geltung. Das ist doch für Sie eine Genugtuung?« Ernesto schwieg und ich errötete fast. Wusste ich doch, dass es spät ist, uns grinst hier ein nichtssagendes Missverständnis in Gestalt kirchlicher, Fratzen schneidender Wasserspeier von oben heimlich an, von oben durch das Fenster der Gastwirtschaft, in der wir saßen.
Alle europäischen Ereignisse hingen still an der Wand, ich wusste, Ernesto hatte sie heute morgen alle gelesen. Er scherzte heute mit mir nicht über die Frauen. Er legte mir nicht seine beliebte Frage über meine erotischen Angelegenheiten vor, er gab zu verstehen, nur noch an diesen Ereignissen ein ständiges Interesse zu haben. Nicht einmal das galt mehr von seinem Programm?
Angesichts des Kuchentabletts, das der Kellner vor uns hingestellt hatte und von dem sich Ernesto bediente, fürchtete ich zu sprechen, fürchtete etwas vorzutäuschen. Ich fürchtete, er würde nicht wahrnehmen, dass ich denke: »Ernesto, Ihr Leben endete als Misserfolg.« Ich spürte nämlich, dass Ernesto dasselbe denkt wie ich.
Er sagte, er werde bald in Pension gehen, werde Wohnung und Bibliothek verkaufen und aufs Land ziehen. Ichbrummte, das sei Unsinn. Der Ofen
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