Bel Canto (German Edition)
er annehmen, dass Giulia heute noch bedeutende Leute kennt oder mit ihnen verkehrt.
Vielleicht werde ich am Ende romantisch wie Giulia! Möglich, dass Rittmeister X. Giulia nur aus Freundschaft aufsuchte oder weil er Geschäftsverbindungen für seine Ballonseidenvertretung suchte, und an dem Ganzen auch nicht der Schatten von etwas Verdächtigem ist.
Giulia sagt auf mein Insistieren, und offenbar ungern und interesselos, Rittmeister X., obwohl er einenAdelstitel trage, hätte immer in bedrängten Verhältnissen gelebt. Besonders zuletzt, als sie sich mit ihm getroffen habe. Wenn sie jetzt sehe, in welchem Hotel er wohne, wie er gekleidet sei, welchen Wagen er fahre, nehme sie an, er lebe in verhältnismäßigem Luxus. Er habe ihr wunderschöne Blumen gebracht.
Giulia hatte nichts, was sie ihm anbieten konnte, das war ihr peinlich. Zum Glück fand sie einen Rest Gin und hatte eine Konserve zu Hause. Nachdem ich sie damit erschreckt hatte, Rittmeister X. könnte eine verdächtige Person sein, bedauert sie jetzt vielleicht, die Dose geöffnet zu haben. Ich tue ihr Unrecht: Giulia bedauert niemals, wenn sie sich als Gastgeberin zeigen kann. Lieber würde sie selbst nicht essen, nur um jemanden so lange wie möglich, wie sie sagt, »elegant« zu bewirten.
Sie ist eher davon enttäuscht, dass des Rittmeisters Besuch nicht der gegolten hat, die er eigentlich immer, unbewusst vielleicht, liebte.
(Warum könnte ein Schmuggler nicht ein schönes Mädchen lieben?)
Ich kann dafür nicht bürgen, bin aber überzeugt, er war wirklich ein Schmuggler! Ich sehe Giulia mit Bewunderung an, aber sie verlangt diesmal erstaunlicherweise nicht, bewundert zu werden. Ich warne sie erneut, sie solle acht geben und sich in nichts verwickeln. Giulia hat ein wenig verwundert ihre schönen blauen Augen auf mich geheftet. Sie begreift nicht so recht, warum ich mich darüber so aufhalte. Die üblichen Theaterverwicklungen. Es schadet ihr, schadet! Aber wir sind nicht immer im Theater und ich muss Giulia warnen, damit sie den Nachstellungen des sich in die Felsen schleichenden Schmugglers entkommt.
Ich höre ihre Stimme –
A quell’ accento!
Giulias Leben, das wäre ein Roman!
Des Schicksals Stärke hat sie aber vom mädchenhaften Lerchenlied, vom Liebesglück weggeführt, oft über unverständliche Verwicklungen, in die weite Welt.
Verso America il mare solcava.
Giulias Leben, das wäre ein Roman!
Auf keinen Fall, es ist Oper!
Sie trat so oft allein an diesen ungeheuer romantischen Orten auf, in Felsen, Schluchten, auf Meeren, in Arenen, tiefen Wäldern, auf Schlössern, in Dörfern. In vergangenen Jahrhunderten. Sie sang das Lerchenlied, das Wiegenlied; leidenschaftliche Liebe, die sie nicht vor dem Verbrechen bewahrt; sie war Dorfmädchen, Königin, war rein, verdorben, von Fürsten geliebt, von Dorfburschen, Schmugglern. Sie kniete in der Kirche, tanzte auf dem Tisch –
Ich erinnere mich, als ihr Kollege Peterka zu Besuch war und mir erzählte, wie graziös er Giulia auf den Tisch heben werde. Ja, er erzählte das bei Tisch, beim Essen, stand kurz auf, um mir zu zeigen, wie graziös er Giulia auf den Tisch gehoben habe. Es war sein Einfall, gab der ganzen Szene Leben, unglücklicherweise konnte er das nur mit schlanken Sängerinnen wiederholen. Er beklagte sich, gerade in Prag war daran nicht zu denken. Er teilte seinen Einfall einem hiesigen Regisseur mit, der lachte nur: »Warten Sie ab, bis Sie ihre Partnerin sehen!«
Giulias Leben, könnte das Roman sein?
Auf keinen Fall, es ist Oper!
Ich sehe sie in einem Kleid, das aus der Theatergarderobe wie auch von einer Fotografie, auf der sie etwasechzehn ist, sein könnte. Ich sehe ihre beiden blonden Zöpfe, ihren jungen Blick, die Körperhaltung, ich höre ihr in den Felsen widerhallendes Lerchenlied.
Stellen Sie sich vor, es gibt Leute, deren Beruf es ist, künstliche Felsen herzustellen.
Ja, den Josef, sie rufen ihn Josef!
Giulias Leben, könnte das ein Roman sein?
Sie sagt, sie hätte dafür schon eine Idee (ihre Worte): er begänne mit dem Taufschein und ende mit dem Totenschein der Heldin.
Was liegt alles dazwischen! Alle diese Ereignisse: von dem Tag, als das sechzehnjährige schöne Mädchen mit den blonden Zöpfen und den blauen Augen, in der Schürze, das Lerchenlied sang, bis zu dem Tag, an dem Rittmeister X. sie besuchte. Er vertritt Ballonseide und fragte sie, ob sie nicht Bekannte in Industriellenkreisen hätte. Trotz seines Adelstitels lebte er in
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