Bel Canto (German Edition)
bedient.
Zwischen Wermutglas, Siphonflasche und Zeitung greift er nach einer Streichholzschachtel; auf seinem Gesicht der Abglanz von ausgetrunkenem Wermut und Zeitungsnachrichten: die Springer auf dem Schachbrett bereiten sich auf den Angriff vor. Ich höre das Stampfen der Hufe.
Ich weiß, Ernesto schreibt sich in dieser großen Partie eine bestimmte Aufgabe zu. Sein Gesichtsausdruck zwingt mich, mir vorzustellen, wie er Giulia ausgelacht hat: Wie könne sie denken, er würde sie heiraten; ich begreife jetzt vollkommen den Sinn, den er seiner Beziehung zu ihr beimaß.
Machiavelli liebte die schöne Tänzerin Barbara. Ernesto sah Giulia auf der Kabarettbühne im mit Kölnisch-Wasser-Reklame beklebten Kostüm: Gegenüber Jülichplatz * .
Damals auf dem Marktplatz in Mailand tranken wir auch Wermut. Weiß Ernesto, dass im Mailänder Refektorium, wo sich Leonardos Abendmahl befindet, die Ställe der Napoleonischen Soldaten waren? Ernesto interessiert sich nicht für Kunst.
Ich sehe trotz eines Packens Zeitungen, zwischen Wermutgläsern und einer Siphonflasche, blau wie der Himmel über der Poebene, sehe trotz der Schwärze der Schlagzeilen den entsetzlichen Angriff der Reiter:
Sie werden erschlagen, auch mitsamt ihren Pferden, in Stücke gerissen, gewürgt, sie erstarren, bäumen sich auf dem gigantischen Schachbrett der Geschichte, in einer Dreiecks- oder Kreiskomposition von so gewaltigem Ausmaß, dass sie nicht zu fassen ist.
Ich höre Ernestos Stimme, er spricht mit in der Zeitung gedruckten Worten, die vor uns auf dem Tisch liegt.
Ich nehme den Regen wahr, die Feuchtigkeit, die ebenso beharrlich die Fresken wie die von den Pferden gestürzten erstarrten Reiter zerstört; der Regen wäscht mit kühler Hand die Quadrate des riesigen, von den Plätzen europäischer Städte und Großstädte geschaffenen Schachbretts.
FORTSETZUNG: DER CORSO
Wenn ich an Ernesto denke, stelle ich ihn mir meistens im Trenchcoat mit einer Zigarette vor, wie er an einem Winter- oder Herbstsonntag am Ufer spazierengeht. Da ist er am eindrucksvollsten. Als ich ihn dort sah, verstand ich nicht, warum er gerade diesen Sonntags-»Corso« wählte. Heute weiß ich, dies entsprach ganz Ernestos Programm: seine Persönlichkeit zeigen, die Damen durch seine Gegenwart beeindrucken, in ihnen Sehnsüchte wecken, die umso stärker sind, desto unstillbarer sie scheinen. Übrigens war Ernesto immer geneigt, Sehnsüchte zu befriedigen. Aber sie entstanden meist nur in seiner Phantasie. Dass er Gegenstand vieler geheimer Sehnsüchte ist, das vermutete er nur. Nicht aus Eitelkeit, da würden wir Ernesto Unrecht tun, es war einfach seine Überzeugung, sein Lebensprogramm: Frauenverführer zu sein; auch war er überzeugt, die beste Art, sie zu gewinnen, sei sie zu ignorieren, sich rücksichtslos ihnen gegenüber zu benehmen. Ich kenne übrigens außer Giulia keine andere Frau, bei der Ernestos Methode gewirkt hätte.
Ernesto betritt die Uferpromenade mit der nie erlöschenden Zigarette im Mund; trifft er eine bekannte Dame, grüßt er höflich, aber mit schamlosem Blick, von dem er annimmt, er bereite jeder Frau Vergnügen.
Mit gedankenschwerem Gesicht, von dem er meint, es übersteige die Verstandeskraft aller Leute, denen er begegnet, erscheint er auf dem Corso. Die ihn aus demHerrenklub kennen, beachten das nicht, nehmen es wie andere kleine Eigenheiten ihrer Mitglieder auf: einer trinkt ab und zu so, dass es Anstoß erregt, ein anderer spielt auch außerhalb des Klubs mit Leuten Karten, mit denen anständige Klubmitglieder nicht spielen würden, ein dritter hat bereits das gesamte Familienvermögen durchgebracht und ruiniert wahrscheinlich die ganze Familie. Ernesto Olivo war übertrieben ehrgeizig. Das ist im Klub bekannt, man betrachtet das mit Nachsicht.
Die meisten Leute, die zum Mittagstisch im Familienkreis gehen und Olivo auf der Promenade sehen, sind überzeugt, dass Olivo im Trenchcoat, mit der Zigarette im Mund, dem überheblichen Gesichtsausdruck, nur eine Figur ihres Corsos ist. Nach und nach werden sie sich angewöhnen, über ihn wie über alle ihre Mitglieder, die aufgestiegen oder unter das Niveau und den Durchschnitt eines Herrenklubmitglieds gesunken sind, zu sprechen.
Am häufigsten wird natürlich Matteo über ihn reden:
Hört mal, mir fällt gerade ein! Alle werden verstummen und Matteos Erzählung zuhören, witzig, zügig, amüsant, anekdotisch die Vergangenheit beschreibend. Aber zum Schluss wird er manchmal sagen: Ich
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