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Belladonna

Belladonna

Titel: Belladonna Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karin Slaughter
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kriegte sie über den Rand des Glases heraus. Der Whiskey hinterließ einen bitteren Geschmack. Sie ließ den Blick nicht von Hank, als sie das Glas leerte und es dann mit Schwung auf die Schachtel zurückstellte. Lena konnte sich nicht erklären, was sie zurückhielt. Jahrelang hatte sie darauf gewartet, einmal die Oberhand über Hank Norton zu gewinnen. Jetzt war ihre Möglichkeit gekommen, ihm so wehzutun, wie er Sibyl wehgetan hatte.
    «Hast du jetzt auch angefangen, Kokain zu schnupfen, oder nur geheult?»
    Lena rieb sich mit dem Handrücken über den Mund. «Was meinst du wohl?»
    Hank starrte sie an, rieb und knetete sich die Hände. Das war mehr als eine nervöse Angewohnheit, wie Lena wusste. Hank hatte schon früh Arthritis bekommen, weil er sich immer wieder Speed in die Venen seiner Hände gespritzt hatte. Da die meisten Venen durch die starken Zusatzstoffe, mit denen die Droge gestreckt wurde, verkalkt waren, funktionierte auch in den Armen der Blutkreislauf nicht gut. An den meisten Tagen waren seine Hände eiskalt und schmerzten unentwegt.
    Er hörte plötzlich auf, sich die Hände zu reiben. «Bringen wir's hinter uns, Lee. Ich muss eine Show auf die Bühne stellen.»
    Lena wollte den Mund öffnen, aber sie brachte keinen Ton heraus. Zum Teil war sie ärgerlich über seine arrogantschnodderige Art, die er ihr gegenüber schon seit jeher an den Tag gelegt hatte. Zum anderen wusste sie nicht, wie sie es ihm sagen sollte. Sosehr Lena ihren Onkel auch hasste, war er doch ein menschliches Wesen. Hank war in Sibyl vernarrt gewesen Während der High-School-Zeit konnte Lena ihre Schwester nicht überallhin mitnehmen, und so war Sibyl oft zu Hause bei Hank geblieben. Die enge Beziehung zwischen beiden war unbestreitbar, und sosehr Lena auch den Wunsch verspürte, ihren Onkel leiden zu sehen, spürte sie doch eine gewisse Hemmung. Lena hatte Sibyl geliebt, Sibyl hatte Hank geliebt.
    Hank nahm einen Kugelschreiber zur Hand, drehte ihn zwischen den Fingern und ließ ihn über den Tisch wandern, bevor er schließlich fragte: «Was gibt's denn für Probleme, Lee? Brauchst du Geld?»
    Wenn es so einfach wäre, dachte Lena.
    «Auto kaputt?»
    Sie schüttelte ganz langsam den Kopf.
    «Es ist wegen Sibyl», verkündete er, und dabei drohte seine Stimme zu versagen.
    Als Lena nicht antwortete, nickte er wie zur Selbstbestätigung und faltete die Hände, als wolle er beten. «Sie ist krank?», fragte er. Man merkte seiner Frage an, dass er das Schlimmste befürchtete. In diesem einen Satz lag mehr Gefühl, als Lena ihren Onkel je hatte ausdrücken sehen. Sie betrachtete ihn, als sähe sie ihn zum ersten Mal. Seine käsige Haut hatte eine Vielzahl jener roten Flecken, die blasse Männer mit zunehmendem Alter im Gesicht bekommen. Sein Haar, schon silbrig grau, solange sie sich erinnern konnte, hatte jetzt unter der Sechzig-Watt-Glühbirne einen stumpfen gelblichen Schimmer angenommen. Sein Hawaiihemd war zerknittert, was er sich sonst eigentlich nie leistete, und seine Hände, die er anscheinend nicht ruhig halten konnte, zitterten leicht.
    Lena machte es so, wie Jeffrey Tolliver es auch getan hatte. «Sie ging in den Diner in der Stadtmitte», fing sie an. «Du weißt schon, den gegenüber von dem Kleidergeschäft.» Er nickte. «Sie ging zu Fuß hin. Das hat sie jede Woche einmal gemacht, sie wollte etwas tun, bei dem sie auf sich allein gestellt war.»
    Hank verschränkte die Hände vorm Gesicht und legte die Seiten der Zeigefinger an die Stirn.
    «Also, ähm... » Lena hob das Glas, weil sie etwas tun musste. Sie saugte den letzten Rest Whiskey von den Eiswürfeln und fuhr fort: «Sie ging auf die Toilette, und jemand hat sie umgebracht.»
    In dem winzigen Büroraum war kaum ein Ton zu hören. Grashüpfer zirpten draußen. Der Bach gluckerte. Das ferne Hämmern der Musikbox klang aus der Bar herüber.
    Ohne jede Einleitung drehte Hank sich um, kramte in den Kartons und fragte: «Was hast du heute Abend getrunken?»
    Lena war von der Frage überrascht, obwohl sie es nicht hätte sein sollen. Trotz der Gehirnwäsche bei den Anonymen Alkoholikern war Hank Norton ein Meister darin, allem Unangenehmen aus dem Weg zu gehen. Dieses Bedürfnis, möglichst alles zu verdrängen, hatte Hank überhaupt erst zum Alkohol und zu den Drogen gebracht. Sie spielte mit. «Bier im Auto», sagte sie, froh, dass er die grässlichen Einzelheiten nicht hören wollte. «Hier dann JD.»
    Eine Flasche Jack Daniels in der Hand, hielt er inne.

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