Belladonna
Blick auf irgendeines dieser Bilder zu werfen, und sie konnte sich an den Namen des Kindes erinnern sowie meistens auch an seine oder ihre Krankengeschichte. Sie stellte dann irgendwann fest, dass sie inzwischen als junge Erwachsene in die Klinik kamen, und sie sagte ihnen, dass sie mit neunzehn besser einen Allgemeinmediziner aufsuchen sollten. Einige von ihnen reagierten darauf tatsächlich mit Tränen. Auch Sara musste einige Male schlucken. Da sie keine eigenen Kinder haben konnte, entwickelte sie oft starke emotionale Bindungen zu ihren Patienten.
Sara öffnete ihre Tasche, um ein Krankenblatt zu suchen. Sie stutzte, als sie die Ansichtskarte erblickte, die sie mit der Post bekommen hatte. Sie starrte auf das Foto des Eingangstors der Emory University. Sara erinnerte sich an den Tag, als die Aufnahmebestätigung von Emory gekommen war. Man hatte ihr zwar Stipendien an renommierteren Universitäten weiter oben im Norden angeboten, aber von Emory hatte sie schon immer geträumt. Dort wurde wahre Medizin gelehrt, und Sara konnte sich auch nicht vorstellen, woanders als in den Südstaaten zu leben.
Sie drehte die Karte um und fuhr mit dem Finger an der sorgfältig getippten Adresse entlang. Seit Sara Atlanta verlassen hatte, bekam sie jedes Jahr so gegen Mitte April eine Postkarte wie diese. Letztes Jahr war sie aus der gekommen, und die Nachricht hatte gelautet:
Sie schrak auf, als Nellys Stimme durch den Telefonlautsprecher erklang.
«Doktor Linton?», sagte Nelly. «Die Powells sind da.» Sara ließ den Finger auf dem roten Antwortknopf. Sie ließ die Karte wieder in die Aktentasche fallen und sagte: «Ich komme gleich und hole sie ab.»
ACHT
Als Sibyl und Lena in der siebten Klasse waren, fand ein älterer Junge namens Boyd Little Vergnügen daran, sich an Sibyl heranzuschleichen und an ihrem Ohr mit den Fingern zu schnippen. Eines Tages folgte ihm Lena, nachdem er aus dem Schulbus ausgestiegen war, und sprang ihn von hinten an. Lena war klein und flink, aber Boyd war ein Jahr älter und gut fünfundzwanzig Kilo schwerer. Er hatte sie fast zu Brei geschlagen, bevor es dem Busfahrer gelang, die beiden zu trennen.
Diese Episode hatte sie nie vergessen, aber Lena Adams konnte mit Fug und Recht sagen, dass sie sich noch nie physisch so kaputt gefühlt hatte wie an dem Morgen nach dem Tod ihrer Schwester. Zum ersten Mal meinte sie zu verstehen, warum man diesen Zustand als bezeichnete, denn ihr gesamter Körper fühlte sich an, als hätte man ihn über das Knochenskelett gehängt, und es brauchte eine gute halbe Stunde unter der heißen Dusche, bis sie wieder einigermaßen aufrecht stehen konnte. Ihr Kopf schien zerspringen zu wollen. Keine noch so große Menge Zahnpasta reichte, den fürchterlichen Geschmack in ihrem Mund zu vertreiben, und ihr Magen fühlte sich an, als sei er zu einem kleinen Ball zusammengedrückt und dann mit Zahnseide straff umwickelt worden.
Sie saß hinten im Besprechungsraum des Reviers und versuchte mit aller Willenskraft, sich nicht schon wieder zu übergeben. Nicht dass noch viel da gewesen wäre, das sie hätte erbrechen können. Sie fühlte sich innerlich so leer, dass ihre Bauchdecke tatsächlich konkav aussah.
Jeffrey trat zu ihr und bot ihr eine Tasse Kaffee an. «Trink mal was davon», forderte er sie auf.
Sie widersprach nicht. An diesem Morgen hatte Hank ihr zu Hause dasselbe geraten. Es war ihr zu peinlich gewesen, etwas von ihm anzunehmen, am allerwenigsten noch einen Rat, und daher hatte sie einen anderen Ort vorgeschlagen, an den er sich mit seinem Kaffee scheren sollte.
Kaum hatte sie die Tasse abgestellt, sagte Jeffrey: «Es ist noch nicht zu spät, Lena.»
«Ich will aber hier bleiben», entgegnete sie. «Ich muss alles wissen.»
Scheinbar eine Ewigkeit lang wandte er nicht den Blick von ihr. Obwohl jeder Lichtstrahl ihre Augen wie eine Nadel zu treffen schien, brach sie nicht als Erste den Blickkontakt ab. Lena wartete, bis er den Raum verlassen hatte, bevor sie sich auf ihrem Stuhl zurücklehnte. Sie stützte die Unterseite der Kaffeetasse auf ihr Knie und schloss die Augen.
Lena konnte sich nicht erinnern, wie sie am Abend zuvor nach Hause gekommen war. Die dreißigminütige Fahrt von Reece war nur noch ein verschwommener Eindruck. Sie wusste, dass Hank den Wagen gefahren hatte, denn als sie heute Morgen einstieg, war der Sitz weit nach hinten geschoben und der Rückspiegel in einem
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