In stiller Wut: Kriminalroman (German Edition)
PROLOG
Der Gefangene
An das grünliche Zwielicht hatte er sich längst gewöhnt. An seine Situation nicht. Er hatte jegliches Zeitgefühl verloren – ein Zustand, der ihm nach vielen Jahren Suff nicht gänzlich fremd war. Anfangs hatte er noch rebelliert, gegen die kreisrunden Betonwände seines Gefängnisses getrommelt, gegen die schwere Eisentür getreten. Nach dem ersten Schrecken, eingesperrt zu sein in einem Raum, der ganz sicher keine Ausnüchterungszelle war, machte ihm anfangs vor allem der Mangel an Alkohol zu schaffen. Obwohl das Entzugsdelirium nun längst hätte hinter ihm liegen müssen, ging es ihm statt besser immer schlechter.
Ein Tropfen löste sich aus dem Wasserhahn, der in einer Ecke installiert war. Aus dem hatte er sich zu Beginn seiner Gefangenschaft versorgen können. Inzwischen verursachte ihm bereits das Geräusch Übelkeit, das das stete Tropfen erzeugte. Wann er zuletzt etwas getrunken hatte, konnte er nicht sagen. Seine Kehle war wie zugeschnürt.
In seiner Halsbeuge schmerzte eine Wunde, deren Herkunft er sich nicht erklären konnte. Zwei nebeneinanderliegende Pusteln, die brannten und pochten. Verdammt, dachte er, hab ich eine Blutvergiftung? »Willst du mich hier verrecken lassen, oder was?«, brüllte er mit erhobener Faust in Richtung des kleinen roten Lämpchens, das weit außerhalb seiner Reichweite unter der Decke leuchtete. Von dort aus ertönte auch die Stimme, die ihn immer und immer wieder dasselbe fragte. Was war das noch gewesen? Er konnte sich nicht mehr erinnern. Keuchend ließ er sich auf sein stinkendes Lager sinken, das aus einer alten Matratze und ein paar kratzigen Wolldecken bestand. Der Wutausbruch hatte ihn seine letzten Kraftreserven gekostet. »Soll ich hier verrecken?«, murmelte er noch einmal. Und ihm kam ein letzter heller Gedanke: Vielleicht war genau das der Plan.
Jenseits der Mauern, nur fünfzig Meter entfernt, saß eine Gestalt vor dem Überwachungsmonitor. Bald, bald ist es so weit, dachte sie. Mit einem Mausklick schaltete sie den Bildschirm aus.
KAPITEL 1
Der Körper lag lang ausgestreckt auf der Bahre. Das dunkelblonde Haar war struppig und fettig, der ungepflegte Bart zeigte erste Spuren von Grau. Unter den Augen hingen tiefe Tränensäcke, die Haut war voller grober Poren. Unterhalb der schmächtigen Brust wölbte sich ein Bauch, der angesichts der dünnen Arme und Beine grotesk wirkte. Der Mann sah definitiv ungesund aus, fand Theo Matthies – sofern man beim Anblick einer Leiche überhaupt noch von einem kranken Aussehen sprechen konnte.
Die Tatsache, dass er fast zwei Wochen in der Kühlkammer der Rechtsmedizin gelegen hatte, verbesserte seinen Anblick in keiner Weise. Mit leichtem Widerwillen machte der Bestatter sich daran, die Haare des Toten zu waschen. Das war im Bestattungsinstitut Matthies eine Selbstverständlichkeit, auch wenn wahrscheinlich niemand von dem Verstorbenen am offenen Sarg Abschied nehmen würde.
Theos Abneigung entsprang keinesfalls dem heruntergekommenen Aussehen des Mannes, dazu hatte er viel zu oft Demenzpatienten und andere verwahrloste Menschen für die Totenruhe vorbereitet. Er beruhte auf der Tatsache, dass er den Toten gekannt – und zu Lebzeiten nicht gemocht hatte.
Ich hätte ihn doch May überlassen sollen, dachte Theo, während er verbissen den tiefsitzenden Schmutz unter den Fingernägeln der Leiche entfernte. Ohne die junge, chinesische Bestatterin hätte Theo den Laden längt dichtmachen müssen.
Einzig seine Neugierde hatte Theo dazu getrieben, den Leichnam selbst herzurichten. Denn Reinhold Lehmann hatte nicht nur gemeinsam mit Theo Abitur am Gymnasium Kirchdorf gemacht, er war auch eines äußerst bizarren Todes gestorben. Und ebendas hatte Theos noch immer vorhandenes professionelles Interesse entfacht. Denn in seinem ersten Leben war er Mediziner gewesen. Erst nach dem Tod seiner Frau Nadeshda hatte er sich dem familieneigenen Traditionsunternehmen zugewandt: Bestattungsinstitut Matthies, gegründet 1926.
Gestern erst hatte sein ehemaliger Studienkollege Leo Jürgens von der Hamburger Rechtsmedizin ihn angerufen. »Hier wartet ein ganz spezieller Fall auf dich. Und du hast so was von Riesenglück, denn offenbar wollte der Typ ausgerechnet von dir bestattet werden.«
Das ließ sich vielleicht durch ihre, Lehmanns und Theos, gemeinsame Schulzeit erklären. Allerdings verwunderte es ihn, dass Reinhold überhaupt gewusst hatte, dass er das Metier gewechselt hatte – back to the roots
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