Belladonna
Blatt. Ihre Augen versagten den Dienst. Sie konnte nicht einmal die einzelnen Rubriken erkennen.
«Sara?», fragte Ellen mit viel Mitgefühl in der Stimme. Den größten Teil ihrer beruflichen Laufbahn hatte sie in Augusta in der Notaufnahme gearbeitet. Sie befand sich bereits im Frühruhestand und verdiente sich zu ihrer Rente etwas hinzu, indem sie im Grant Medical Center Nachtschichten machte. Sara hatte vor Jahren mit ihr zusammengearbeitet, und die beiden Frauen verband eine solide berufliche Beziehung, die auf gegenseitigem Respekt gründete.
Ellen sagte: «Er ist okay, wirklich. Das Demerol wird ihn bald umhauen. Die meisten Schmerzen hat er davon, dass Hare in seinem Bein rumgestochert hat.»
«Hare?», fragte Sara und verspürte zum ersten Mal seit zwanzig Minuten ein wenig Erleichterung. Ihr Cousin Hare war ein Allgemeinmediziner, der manchmal im Krankenhaus einsprang. «Ist er hier?»
Ellen nickte und pumpte die Manschette auf. Sie bat mit erhobenem Finger um Ruhe.
Jeffrey regte sich und öffnete langsam die Augen. Als er Sara erkannte, spielte ein leichtes Lächeln um seine Lippen.
Ellen lockerte die Manschette. Sie sagte: «Hundertfünfundvierzig zu zweiundneunzig.»
Sara runzelte die Stirn und studierte Jeffreys Krankenblatt. Jetzt erkannte sie, was darauf stand.
«Ich geh Doktor Earnshaw holen», sagte Ellen.
«Danke», entgegnete Sara und schlug das Blatt ganz auf.
«Seit wann nimmst du Betablocker?», fragte sie. «Wie lange hast du schon so hohen Blutdruck?»
Jeffrey lächelte verschmitzt. «Seit du im Zimmer bist.»
Sara überflog das Blatt. «Fünfzig Milligramm am Tag. Gerade von Captropil umgestellt? Warum hast du damit aufgehört?» Sie fand die Antwort auf dem Blatt. ««Umstellung veranlasst durch unproduktiven Husten>», las sie laut vor.
Hare kam ins Zimmer und sagte: «Das ist bei ACE-Hemmern verbreitet.»
Obwohl er ihr den Arm um die Schultern legte, ging Sara nicht auf ihren Cousin ein.
Sie fragte Jeffrey: «Bei wem bist du deswegen in Behandlung?»
«Lindley», antwortete Jeffrey.
«Hast du ihm von deinem Vater erzählt?» Sara klappte das Krankenblatt zu. «Ich fass es nicht, dass er dir keinen Inhalator verschrieben hat. Wie ist denn dein Cholesterinwert?»
«Sara.» Hare nahm ihr das Krankenblatt aus der Hand. «Ruhig jetzt.»
Jeffrey lachte. «Danke.»
Sara schlug die Arme übereinander und merkte Wut in sich aufsteigen. Sie hatte sich auf dem Weg ins Krankenhaus große Sorgen gemacht und schon mit dem Schlimmsten gerechnet. Aber jetzt, als sie hier war, stellte sie fest, dass es Jeffrey ganz gut ging. Sie war über die Maßen erleichtert, aber irgendwie fühlte sie sich von ihren Gefühlen hereingelegt.
«Guck mal», sagte Hare und schob ein Röntgenbild in die Klemmschiene des Lichtkastens an der Wand. Er schnappte hörbar nach Luft und sagte: «O mein Gott, so was Schlimmes hab ich ja noch nie gesehen!»
Sara stoppte ihn mit einem Blick und drehte die Röntgenaufnahme richtig herum.
«Na, Gott sei Dank!» Hare seufzte dramatisch. Als er jedoch sah, dass sie an seiner Vorstellung kein Gefallen fand, runzelte er die Stirn. Dass er die Dinge nur höchst selten ernst nahm, ließ Sara ihren Cousin ebenso lieben wie hassen.
Hare sagte: «Hat die Arterie verfehlt, ebenso wie den Knochen. Ist hier innen glatt durchgegangen.» Er lächelte beruhigend. «Absolut nicht schlimm.»
Sara ignorierte die Diagnose und beugte sich vor, um Hares Ergebnis nochmals zu überprüfen. Nicht nur war das Verhältnis zu ihrem Cousin schon immer von heftigstem Konkurrenzdenken getrübt worden - sie wollte sich auch persönlich davon überzeugen, dass nichts übersehen worden war.
«Drehen wir dich mal auf die linke Seite», forderte Hare Jeffrey auf und wartete, dass Sara ihm half. Sara hielt Jeffreys verletztes rechtes Bein stabil, während sie ihn umdrehten: «Dadurch sollte jetzt dein Blutdruck ein wenig sinken», sagte Sara. «Sollst du heute Abend noch dein Medikament nehmen?»
«Die eine oder andere Dosis hab ich wohl zu spät genommen», gestand Jeffrey.
«Zu spät?» Sara spürte den eigenen Blutdruck in die Höhe schnellen. «Was bist du denn für ein Idiot?»
«Die Pillen sind mir ausgegangen», murmelte Jeffrey kleinlaut.
«Ausgegangen? Du wohnst doch fast direkt neben der Apotheke.» Sie sah ihn ebenso fassungslos wie wütend an. «Was hast du dir nur gedacht?»
«Sara», unterbrach Jeffrey. «Bist du den weiten Weg hergekommen, nur um mit mir zu meckern?» Darauf
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