BELLAGIO -- Roman (German Edition)
mit machen sollte, die eben nur Männer miteinander machten. Mit dem er auch einmal ein Männergespräch führen konnte. Vielleicht versuchte Chris unbewusst, das alles von ihr zu bekommen. Aber sie schaffte das nicht mehr. Sie konnte einfach nicht alles sein. Sie war schließlich nur die Mutter.
Zwar wusste sie als Psychologin, dass das natürlich zum Großteil der Pubertät geschuldet war, aber trotzdem hatte früher niemand gewagt, seine Eltern so zu behandeln, wie das viele Jugendliche heute taten. Sie dachte an ihre eigene Pubertät.
‚Wir mussten damals auch mit dem Leben zurecht kommen und unsere Identität finden.’
Was für ein Unterschied. Selbst die, die damals als frech galten, wären im Vergleich zu den Kids heute die reinsten Engel. Hier lief gesellschaftlich und in der Erziehung einiges schief, anders konnte es nicht sein. Und wenn sie sich einmal wieder bei ihrem Chris über sein abartiges Verhalten beklagte, dann bekam sie zu hören, sie solle lieber froh sein, dass er nicht ganz so übel zu ihr wäre wie einige seiner Klassenkameraden zu deren Müttern. Die würden nämlich ihre Mütter richtig gehend schlagen. Einer hätte seine Mutter neulich sogar für einen ganzen Tag in die Küche eingesperrt.
‚Freiheit tut eben nicht immer gut.’
Selbst bei ihren Eltern war sie sich nicht wirklich sicher.
‚Ich glaube, die haben einfach an mir als ihrem Kind ihre Pflicht erfüllt. Aber war das Liebe?’
Die Worte ‚Ich liebe dich’ hatte sie von ihren Eltern noch nie gehört. Es war immer ein etwas kühles, fast distanziertes Verhältnis gewesen. Kein Wunder, dass sie damals das Bedürfnis gehabt hatte, Psychologie zu studieren.
Als sie mit 24 Jahren direkt nach ihrem Abschluss Konrad überstürzt heiratete, hatte sie die Hoffnung, mit ihm wirklich leben zu können, ihm vertrauen zu können. Bei ihm hatte sie sich irgendwie geborgen gefühlt. Vor allem nach diesem Desaster, das sie kurz vorher erlebt hatte. Doch sie und Konrad hatten sich dann sehr schnell auseinander gelebt. Vielleicht auch deswegen, weil sie sofort schwanger geworden war. Viel zu schnell. Konrad hatte sie dann verlassen. Er wollte kein Kind.
‚Nein, das war keine Liebe.’
Sie hatte Chris immer allein aufgezogen. Ihre Eltern hatten sie gegen einen kleinen monatlichen Betrag von ihr dabei unterstützt. Durch ihre psychotherapeutische Praxis konnte sie sich ihre Zeit einigermaßen flexibel einteilen. Arbeiten musste sie auf alle Fälle, schon aus finanziellen Gründen. Konrad verdiente zwar gut, aber als Selbständiger konnte er wohl viele seiner Einkünfte verstecken und musste so nur den gesetzlichen Mindestbetrag zahlen. Er hatte sich zudem für Chris nie wirklich zuständig gefühlt. Er kam nur ab und an zu Besuch. Ansonsten wollte er seine Freiheit. Er hatte es nie eingesehen, mit Chris auf einen Ausflug, einen Wochenendaufenthalt oder einen Urlaub zusammen zu sein. Was diese Gleichgültigkeit und diese unausgesprochene Ablehnung auf Chris für Auswirkungen haben würde, das war ihm egal.
‚Und was war mit meiner Freiheit, all die Jahre?’
Sie hatte nie die Zeit gefunden, allein auszugehen und sich einen neuen Partner zu suchen. Aber wenn sie wirklich ehrlich mit sich war, dann wollte sie auch gar keinen Mann mehr.
Und wenn sich jetzt Chris, ihr Chris, den sie über alles liebte, gegen sie wandte, sie sogar körperlich angriff, dann konnte sie das schlichtweg nicht mehr verkraften. Das war zuviel. Nach all den Opfern, nach all dem Alleinsein. Das war zuviel. Ihre Augen wurden nass.
„Kann ich Ihnen vielleicht helfen?“
Ein alter Mann zerrte Ela abrupt aus ihren trüben Gedanken heraus. Er hatte an einer Leine einen Cocker Spaniel dabei.
Ela schreckte auf. Zu tief war sie in ihr dunkles Leben versunken gewesen.
„Nein, nein... danke“.
„Sie sahen so traurig aus... so resigniert. Ich dachte schon...“, der Mann wusste nicht recht, wie er sich ausdrücken sollte. Als er sie da stehen sah und bemerkte, wie sich ihr Oberkörper immer weiter über das Geländer beugte, hatte er plötzlich Angst bekommen, dass sie sich etwas antun würde. Sie sah so verloren aus.
Ela schaute dem Mann ernst ins Gesicht. Er machte sich wirklich Sorgen um sie. Sie lächelte ihn zaghaft an.
„Nein... es... es ist alles gut.“
„Sind sie sicher?“ Jetzt, wo er ihr ernstes Gesicht betrachtete, war er überzeugt, dass sie gerade mit dem Gedanken gespielt hatte, zu springen. Eine so hübsche Frau. Ihre dunklen
Weitere Kostenlose Bücher