Berg der Legenden
irgendeinen von ihnen, welches Opfer er bringen würde, damit jener erste Moment der Leidenschaft ein Leben lang anhält, und er würde Dir sagen: die Hälfte meiner Tage, denn es gibt keine solche Frau. Sie irren sich. Ich habe diese Frau gefunden, und nichts wird jemals an ihre Stelle treten, ganz gewiss nicht diese eiskalte Jungfrau, die über mir schlummert.
Manche Männer geben mit ihren Eroberungen an. Die Wahrheit ist, dass ich nie eine andere hatte, da ich Dich vom ersten Moment an, in dem ich Dich sah, liebte. Du bist mein erwachender Morgen, meine untergehende Sonne.
Und als sei das nicht genug, staune ich immer noch über mein Glück, denn ich bin dreifach gesegnet.
Den ersten Segen erhielt ich an dem Tag, an dem Du meine Frau wurdest und einwilligtest, den Rest Deines Lebens mit mir zu teilen. In jener Nacht wurdest Du meine Geliebte, und seitdem wurdest Du meine engste Freundin.
Den zweiten Segen erhielt ich, als Du mich selbstlos ermutigtest, meinen wildesten Traum zu erfüllen. Du hast mir stets zugestanden, mit dem Kopf in den Wolken durch das Leben zu gehen, während Du mit deiner Klugheit und Deinem gesunden Menschenverstand stets mit beiden Beinen fest auf dem Boden bliebst.
Und drittens hast Du mich mit einer wundervollen Familie gesegnet, die mir ewig währende Freude beschert, obwohl der Tag niemals genug Minuten hat, um ihr Lachen zu teilen und ihnen die Tränen fortzuwischen. Ich bedaure oft, dass ich mich selbst ihrer kurzen Kindheitsjahre so sehr beraube.
Clare wird mir nach Cambridge folgen, wo sie nicht nur unvorbereitete Männer überflügeln wird, sondern auch den erfolgreichen Abschluss schaffen wird, an dem ich gescheitert bin. Beridge hat Deine Anmut und Deinen Charme und wächst mit jedem Tag mehr zu Deinem Ebenbild heran, und wenn sie zur Frau erblüht ist, werden sich gewiss viele Männer tief verneigen und um ihre Hand anhalten, doch für mich wird niemand würdig genug sein. Und was den kleinen John angeht, so kann ich es kaum erwarten, sein erstes Schulzeugnis zu lesen, sein erstes Fußballspiel zu sehen, und ihm zur Seite zu stehen, wenn er sich dem stellen muss, was er für sein erstes Unglück halten wird.
Liebes, es gibt so viel mehr, das ich Dir sagen möchte, aber meine Hand beginnt zu zittern, und das flackernde Kerzenlicht erinnert mich daran, dass ich am folgenden Tag noch etwas vorhabe. Ich werde Deine Fotografie am höchsten Punkt der Erde niederlegen, damit ich vielleicht diesen Dämon für immer austreiben und endlich zu der einzigen Frau zurückkehren kann, die ich je geliebt habe.
Ich kann Dich in The Holt sehen, wie Du in Deinem Lehnsessel am Fenster sitzt, diesen Brief liest und lächelst, wenn Du die Seite umblätterst. Schaue einen Moment auf, mein Liebling, und Du wirst mich durch dieses Tor kommen und den Weg auf Dich zulaufen sehen. Wirst Du aufspringen und eilen, um mich zu begrüßen, damit ich Dich in die Arme schließen kann und nie wieder von deiner Seite weiche?
Vergib mir, dass ich so lange brauchte, um zu begreifen, dass Du mir wichtiger bist als das Leben selbst.
Dein Dich liebender Mann,
George
Für den Rest ihres Lebens saß Ruth Mallory um diese Zeit in dem Lehnsessel am Fenster und las erneut den Brief ihres Mannes.
Auf dem Sterbebett erzählte sie ihren Kindern, dass kein Tag verging, an dem sie George nicht durch dieses Tor und den Weg zu ihr hatte laufen sehen.
Nach 1924
George Leigh Mallory
Georges Leichnam wurde am 1. Mai 1999 in 8156 Meter Höhe gefunden. Das Foto seiner Frau Ruth befand sich nicht in seiner Brieftasche, und es gab keine Spur einer Kamera. Seit diesem Tag ist die Bergsteigergemeinde gespalten, ob er der erste Mensch ist, der den Mount Everest bezwungen hat. Nur wenige bezweifeln, dass er dazu in der Lage gewesen wäre.
Sandy Irvine
Als Irvines Tod in der Times verkündet wurde, meldeten sich drei Frauen, die behaupteten, mit ihm verlobt zu sein.
Obwohl verschiedene Expeditionen nach seinem Leichnam suchten, wurde er bis jetzt noch nicht gefunden. Doch im Jahr 1975 erzählte ein chinesischer Bergsteiger, Xu Jing, einem Kollegen, er sei auf einen Toten gestoßen, den er als »Englischen Toten« beschrieb, festgefroren in einer schmalen Spalte auf 8299 Metern. Ein paar Tage später, ehe er eingehender befragt werden konnte, kam Xu Jing selbst durch eine Lawine ums Leben.
Ruth Mallory
Nach Georges Tod blieben Ruth und die Kinder in Surrey, wo Ruth den Rest ihres Lebens verbrachte. Sie starb 1942 im
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