Berg der Legenden
einen schonungslosen Wind, der ins Tal hinabfegte, eine deutliche Warnung, dass der Monsun in wenigen Stunden einsetzen würde. Immer wieder blickte er beklommen nach oben, in der Hoffnung, zwei triumphierende Kollegen auf ihrem Weg nach unten zu entdecken.
Als er sich dem Lager VI näherte, versuchte er den Gedanken zu vertreiben, dass ihnen etwas zugestoßen sein könnte. Doch als er endlich das kleine Zelt erblickte, war es mit einer frischen Schneeschicht bedeckt, ohne verräterische Fußspuren. Die grüne Leinwand flatterte im Wind.
Odell versuchte schneller zu gehen, aber es war sinnlos, denn seine schweren Stiefel versanken immer tiefer im Schnee, bis er das Gefühl hatte, Wasser zu treten. Schließlich gab er auf, fiel auf die Knie und legte die letzten Meter zum Zelt kriechend zurück. Er steckte den Kopf hinein und nahm seine Schneebrille ab, hoffend, ein heilloses Chaos zu erblicken, das zwei erschöpfte Männer hinterlassen hatten, ehe sie in einen festen Schlaf gesunken waren. Obwohl er in Wahrheit bereits gewusst hatte, dass das ein Wunschdenken war, starrte er ungläubig in das Zelt. Noch Jahre später würde Odell seinen Freunden erzählen, dass er das Gefühl hatte, ein Stillleben zu betrachten. In den Schlafsäcken hatte niemand geschlafen, das Glas Kraftbrühe war ungeöffnet, die Riegel Kendal Mint Cake waren nicht ausgepackt. Und daneben stand eine Kerze, die nicht angezündet worden war.
Odell setzte die Schneebrille wieder auf und kroch rückwärts aus dem Zelt. Er stemmte sich auf den Knien hoch und blickte zum Berggipfel empor, doch er konnte nicht weiter als ein paar Meter sehen. Aus vollem Hals schrie er: »George! Sandy!«, doch der peitschende Wind und das Schneetreiben verschluckten seine Worte. Er schrie weiter, bis seine Stimme nicht mehr als ein Wimmern war und er sich im Sturmgetöse selbst nicht mehr hörte. Schließlich gab er auf, aber erst, als er einsah, dass er sich selbst in Lebensgefahr befand. Er kroch zurück zum Zelt, zog widerwillig einen Schlafsack heraus und legte ihn auf die Bergflanke.
***
»Jemand zerrt einen der Schlafsäcke heraus«, verkündete Noel.
»Wie lautet die Botschaft?«, rief Norton.
»Bin mir noch nicht sicher. Ah, jetzt zieht er den zweiten raus.«
Noel fokussierte auf die sich bewegende Gestalt.
»Ist es George?«, rief Norton und blickte hoffnungsvoll zum Berg hoch, eine Hand im Schneetreiben schützend vor die Augen gelegt. Noel gab keine Antwort. Er senkte lediglich den Kopf.
Somervell schlurfte so schnell er konnte zur kleinen Erhebung und nahm Noels Platz hinter der Kamera ein. Er spähte durch den Sucher.
Die gesamte Linse war mit dem Zeichen eines Kreuzes ausgefüllt.
Epilog
He who would valiant be ’gainst all disaster,
Er, der tapfer gegen jedes Unheil geht,
Wenn George Leigh Mallory schon überrascht war von dem Empfang, der ihm nach der Expedition von 1922 bei seiner Rückkehr nach England bereitet wurde, was hätte er dann von dem Gedenkgottesdienst gehalten, der ihm zu Ehren in der St. Paul’s Cathedral abgehalten wurde? Es gab keine Leiche, keinen Sarg, kein Grab, gleichwohl waren Tausende gewöhnliche Bürger von nah und fern angereist, um die Straßen zu säumen und ihm die letzte Ehre zu erweisen.
Let him in constancy follow the master
Möge er dem Herrn folgen in Treue
Seine Majestät der König, der Prince of Wales, der Duke of Connaught und Prince Arthur waren allesamt zugegen, zusammen mit dem Premierminister, Ramsey MacDonald, dem früheren Außenminister Lord Curzon, dem Lord Mayor von London und dem Bürgermeister von Birkenhead.
There’s no discouragement shall make him once relent
Nichts ihn entmutige, nie es ihn reue
General Bruce stand am Ostflügel der Kathedrale, hinter ihm bildeten Lieutenant Colonel Norton, Dr. Somervell, Professor Odell, Major Bullock, Major Morshead, Captain Noel und Geoffrey Young die Ehrenwache. Sie trugen silberne Eispickel unter dem rechten Arm, als sie dem Dekan von St. Paul’s das Mittelschiff herunter folgten, vorbei an den überfüllten Kirchenbänken, und ihre Plätze in der ersten Reihe einnahmen, neben Sir Francis Younghusband, Mr Hinks, Mr Raeburn und Commander Ashcroft, die als Repräsentanten der Royal Geographical Society gekommen waren.
His first avowed intent to be a pilgrim
Zu seinem Schwur als Pilger er steht.
Als der Bischof von Chester die Stufen zur Kanzel erklomm, um vor der Gemeinde in der gedrängt vollen Kirche zu predigen, begann er seine
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