Berge versetzen - das Credo eines Grenzgängers
Pol mit eigenen Kräften, das sich mit Ausnahme von Wally Herbert fast alle Nordpolfahrer seit Peary geschenkt haben, macht die eigentliche Herausforderung einer solchen Unternehmung aus. Die Spielmöglichkeit »der dritte Pol« bekommt so eine historische Dimension: Der Nordpol, der inzwischen im Flugzeug und Luxusliner (mit Atomkraft betriebener Eisbrecher) von Touristen besucht werden kann, ist »by fair means« noch nie betreten worden! (Der erste Pol, der nachweislich erreicht worden ist, bleibt der Südpol, Amundsen 1911). Zwischen 1950 und 1964 wurden alle 14 Achttausender erstmals bestiegen, die Professor Dr. Günter Oskar Dyhrenfurth in einem Standardwerk der Himalaja-Literatur den »dritten Pol« genannt hat. Ist der Nordpol »by fair means« möglich? Fehlerfreies Denken vorausgesetzt â jede Möglichkeit sauber und diszipliniert in allen Aspekten vorwegzudenken reicht nicht aus, um diese Frage zu beantworten.
Ich beginne, alle denkbaren Komplikationen durchzuspielen. Auch dies genügt nicht als Ansatz für eine Lösung. Ausdauer und Können sind selbstverständliche Basis. Wichtiger sind Versuche. Mögliche Fehler durch gemachte Fehler so lange auszuschalten, bis das Ganze möglich ist.
Diese »Wagnis-Kultur« kostet Zeit, Geld und Energie. Gleichzeitig fördert sie mögliche Lösungskombinationen und die Persönlichkeitsentwicklung. Wichtig dabei aber ist, dass die Selbstmotivation nicht auf der Strecke bleibt.
Wenn ich zehn oder 20 Jahre vorausschaue, weià ich, dass ich zum Nordpol muss. Ich plane immer auch für die fernere Zukunft, behalte die Ziele jedoch weitgehend für mich. (Dieses Nordpolprojekt lege ich vor, weil ich ein Beispiel für das letzte und wichtigste Kapitel in diesem Buch brauche. Es ist aber nicht meine einzige Idee für morgen.)
Bald muss ich mich für einen Partner entscheiden. Es ist immer möglich, Menschen für eine gemeinsame Sache zu finden, wenn diese Sache wichtig genug ist. Die Kraft der Ãberzeugung, der innere Schwung, der Geist bringen auch andere in Schwung.
Ich habe keine Sorgen, dass mir die Ideen oder die Begleiter wegbleiben könnten. Zweifel manchmal, ob Geschicklichkeit und Ausdauer auch morgen noch ausreichen für Grenzgänge dieser Art. Hoffnung gleichzeitig, dass Kreativität in der Bewusstseinsveränderung meinem Leben noch einmal eine Wende gibt â nach dem vertikalen und horizontalen Grenzgang zum geistigen.
4.3.1995
Die Fahrt ins Eismeer beginnt. St. PeterburgâChatanga (6 Std.) zusammen mit der Steger-Expedition.
Ankunft um Mitternacht (â39 °C).
5.3.1995
Morgen in Chatanga. Wir hängen in irgendwelchen Buden herum, die alle ähnlich sind: Plastikblumen am Tresen, Pin-up-Girls an den Wänden, der Kaffee nichts als dunkle Brühe. Wind aus Südwest (-36 °C).
Gegen Mittag werden die Hunde geladen. Um 14 Uhr fliegen wir weiter Richtung Sred-ney. Wir laden aus, fahren in die Station (ehemalige Wetterstation) und beginnen zu packen.
6.3.1995
In der »Hütte« hat es +25 °C und drauÃen â39 °C. Und der Wind immer aus Ost, vom Land her. Wir sortieren unsere Ausrüstung, packen ein letztes Mal, gehen zweimal zum Testen aufs Eis. Alles ist vorbereitet. Wir können mit unseren Schlitten (je 150 kg) mindestens 90 Tage drauÃen bleiben.
7.3.1995
Schlimmer Anfang. Mit dem Heli nach K.A. (ca. 2 Std.). Einen Eisbär gesehen. Dann ein Stück weit übers Eis geflogen. Es sieht schlimm aus. Beim Startversuch bedroht uns ein Eisbär. Trotz Schreckschüssen (Leuchtraketen) weicht er nicht. ErschieÃen? Der Hubschrauber vertreibt ihn. Wir sind allein. Es geht langsam. Wieder Bärenspuren. Eispressungen.
8.3.1995
Schlimmer Tag. Stumpfer Schnee, viel offenes Wasser. AufdemLeed, das uns zu weit nach Osten trägt, ist der Weltuntergang angebrochen. Dünnes Eis, und wieder Bärenspuren. Alles ist in Bewegung geraten. Nordsturm. Ab 16 Uhr im Zelt.
-45 °C! Um uns herum ist die Hölle los. Das Eis schiebt, kracht, sägt, hämmert, reiÃt und poltert. Ständiges Erdbeben. Starke Gegendrift. Es ist lebensgefährlich!
9.3.1995
Das ist das Ende! Nach einer nächtlichen Flucht vor dem Untergang mit Zelt und Schlitten schlaflose kalte Stunden im Schlafsack. Aufwärmen 500 Meter weiter. Am Morgen, mit der restlichen Habe (ein Schlitten ging in den Eispressungen verloren) Suche nach einem neuen
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