Bergisch Samba
tot in Solingen gefunden wurde«, sagte ich. »Das hat ja wochenlang in der Zeitung gestanden.«
Frau Weitershagen nickte. »So war es. Im April wurde eines Nachts mitten auf der Potsdamer Straße in Solingen ein etwa vierjähriges Kind gefunden. Die Polizei ermittelte anhand der Verletzungen, dass es überfahren worden war.«
»In der Zeitung war ein Foto von dem Kind veröffentlicht«, setzte ich die Geschichte fort. »Die Eltern oder andere Erziehungsberechtigte wurden gesucht. Und natürlich der Fahrer des Wagens, der das Kind wahrscheinlich getötet hat.«
Frau Weitershagen nickte. »Ganz genau. Nach einigen Wochen ließ das Interesse nach, und die Journalisten beschäftigten sich wieder mit anderen Dingen. Der Fall des unbekannten Mädchens geriet in Vergessenheit.«
»Und?«, fragte ich.
»Der Fall ist meines Wissens bis heute nicht aufgeklärt worden.«
Ich stutzte. »Tatsächlich nicht?«
Sie schüttelte den Kopf. »Tatsächlich nicht. Stellen Sie sich das vor, Herr Rott. Ein kleines Kind. Es kommt um, und niemand meldet sich, der es vermisst. Keine Eltern, keine Verwandten, keine Freunde, keine Nachbarn. Niemand. Ist das nicht furchtbar?« Ihre Stimme klang bitter.
»Allerdings«, sagte ich.
Der Butler kam mit einem Teewagen herein, auf dem sich eine Kanne mit Stövchen und Geschirr befand. Ohne Umschweife begann er den Tisch zu decken. Frau Weitershagen beachtete ihn nicht.
»Ich persönlich empfinde das als sehr schmerzhaft - zu wissen, dass so etwas in unserem Lande möglich ist. Ich kann es nicht ertragen, dass ein Kind ein so mysteriöses Schicksal haben soll. Ich muss einfach wissen, was dahintersteckt.«
Der Butler hatte uns beiden Tee eingeschenkt und sich wieder zurückgezogen. Frau Weitershagen löffelte braunen Zucker in ihre dampfende Tasse. Irgendetwas musste sie mit dem Schicksal des Kindes verbinden, das spürte ich.
»Was ist in der Mappe?«, fragte ich.
»Das ist das Material aus der Zeitung. Ich habe alles gesammelt, was ich finden konnte.«
Ich schlug den Lederumschlag auf. Es waren saubere Kopien. Ich erkannte einige der Meldungen von damals sofort wieder - auch die reißerischen Überschriften. »DAS TOTE MÄDCHEN VON SOLINGEN« hatte es am Anfang geheißen. Später, als die Sache immer geheimnisvoller wurde, war man zur Schlagzeile »DAS RÄTSEL VON DER POTSDAMER STRASSE« übergegangen. »ZEUGE IM FALL DES TOTEN MÄDCHENS?« war dann zu lesen.
»Hier hat es auch mal eine heiße Spur gegeben«, sagte ich und tippte auf einen späteren Artikel.
Frau Weitershagen setzte ihre Tasse ab und nickte. »Zeugen haben einen weißen Transporter beobachtet, der ungefähr zu der Zeit, als das Mädchen umgekommen sein muss, durch die Potsdamer Straße gefahren ist.«
»Was war gerade an diesem Auto verdächtig?«, fragte ich.
»Die Potsdamer Straße ist eine Einbahnstraße. Und der Wagen befuhr sie in falscher Richtung. Und wohl auch ziemlich schnell.«
»Den Unfall selbst hat aber niemand beobachtet?«
»Niemand, der sich gemeldet hätte.«
»Auch nicht der Zeuge, der das Auto gesehen hat?«
»Nein, der Fundort des Kindes lag viel weiter hinten in der Straße. Sie können das alles nachlesen.«
Ich hatte verstanden, worum es ging. Und ich hatte verstanden, dass ich den Auftrag wahrscheinlich vergessen konnte. Diesmal war nicht das Problem, dass der Kunde absprang, sondern dass der Kunde sich in einen Fall einmischte, der bei der Polizei sicher besser aufgehoben war.
Ich sah auf den Tisch und bemerkte meine Teetasse. Ich nahm einen Schluck. Was die Leute an Tee fanden, blieb mir schleierhaft. Ich hatte den Eindruck, heißes Wasser zu trinken. Heißes Wasser mit einem leicht herben Beigeschmack.
»Frau Weitershagen«, sagte ich dann. »Sie wollen, dass ich diesen Fall aufkläre?«
Sie nickte.
»Einen Fall, der im April stattgefunden hat? Die Sache ist sieben Monate her.«
»Ich habe ihn von Anfang an verfolgt. Und ich habe mir schon damals gesagt: Wenn die Polizei die Sache in einem halben Jahr nicht geklärt hat, schalte ich einen Privatermittler ein.« Sie strich sich das silberne Haar zurück. »Sehen Sie, Herr Rott, mir geht die Sache sehr nahe.«
Ich schüttelte den Kopf. »Ich kann verstehen, dass der Gedanke an das tote Kind einem Unbehagen bereitet…«
Sie legte die Hand auf meinen Arm. »Nicht wahr? Das verstehen Sie! Meine Freundinnen haben mich für verrückt erklärt. Was geht dich das tote Kind an, haben sie gesagt.«
Ich riss mich zusammen, um ihren Arm
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