Süße Worte, heißes Flüstern
1. KAPITEL
Das Ortsschild war gewaltig. So gewaltig wie die Ankündigung, die darauf zu lesen war. Auf der gut vier Meter hohen Tafel stand in großen Lettern: Willkommen in Ridgewater, Texas, 3.546 Einwohner. Die Stadt des größten Obstkuchens der Welt!
Um diese kühne Behauptung zu unterstreichen, war unter dem Schriftzug eine glücklich lachende Familie mit zwei Kindern abgebildet, die neben einem monströsen, mit leuchtenden Kirschen geschmückten Kuchen geradezu winzig wirkte.
Ungläubig betrachtete Seth Granger das Ortsschild, während er seine Harley einen Gang herunterschaltete und das Tempo drosselte.
Seit acht Jahren war Seth beim Rauschgiftdezernat der Kriminalpolizei von Albuquerque in New Mexico und hatte bei seinen verdeckten Ermittlungen schon eine Menge vom Leben gesehen. Aber eine Familie, die Gefahr lief, von einer Lawine aus klebrigem Kuchenteig, Früchten und Nüssen erschlagen zu werden, war ihm noch nicht untergekommen.
Kopfschüttelnd achtete er auf seine Geschwindigkeit, um die vorgeschriebenen fünfundzwanzig Meilen innerhalb der Ortschaft nicht zu überschreiten. Das Letzte, was er sich wünschte, war ein Strafmandat in einer Stadt voller braver Amerikaner, die sich rühmten, Inhaber eines Obstkuchen-Weltrekords zu sein.
Hinter ihm lagen sechs Stunden Fahrt auf den glühenden Highways quer durch Texas. Was er jetzt brauchte, waren ein großes Glas Eiswasser, ein saftiger Cheeseburger und eine Tankfüllung für seine Maschine. Noch vor Einbruch der Dunkelheit wollte er in Sweetwater ankommen, ein erträgliches Motelzimmer finden und den Staub der Straße endlich mit einem eiskalten Bier herunterspülen. Dazu vielleicht noch eine knusprige Peperoni-Pizza, serviert von einer ebenso knusprigen Kellnerin – mehr konnte er in diesem Augenblick vom Leben nicht verlangen.
Eine Frau in mittleren Jahren führte auf dem Bürgersteig neben der Hauptstraße ihren Terrier spazieren. Als sie Seth erblickte, starrte sie ihn missbilligend an. Er spürte, dass sie ihm mit den Blicken folgte, als er an ihr vorbeifuhr. Der Hund zerrte an der Leine und kläffte dem Motorrad hinterher.
Kleinstadtmief, dachte Seth. Doch er war sich bewusst, dass er abenteuerlich aussah. Er hatte sich seit Tagen nicht mehr rasiert, und sein dichtes schwarzes Haar reichte ihm bis auf die Schultern. Sein letzter Auftrag war gewesen, eine Gruppe von Junkies zu observieren. Dazu hatte er sein Äußeres ein wenig anpassen müssen. Und auch danach war er noch nicht beim Friseur gewesen. Das, zusammen mit seiner schweren Maschine und der dunklen Sonnenbrille, die er trug, musste bei den braven Bürgern hier zwangsläufig die Assoziation von den Hell’s Angels hervorrufen.
Die Hitze des Nachmittags flimmerte auf dem Asphalt. Seth bog in die nächste Tankstelle ein. Aller Augen waren auf ihn gerichtet, während er vor einer der Tanksäulen hielt, die Maschine aufbockte und den Tankverschluss abschraubte. Während sich der Tank seiner Harley Davidson langsam füllte, blickte Seth in die Runde und stellte fest, dass alle, die ihn eben noch neugierig angestarrt hatten, jetzt wegsahen und plötzlich auffällig intensiv mit ihren Autos beschäftigt waren. Er musste grinsen und stellte sich vor, wie sie alle, wenn er plötzlich laut ‘Buh!’ riefe, verschreckt hinter ihren familienfreundlichen Kombis verschwinden würden.
Augenblicklich war Seth jedoch nicht nach solchen Scherzen zumute. Er war zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Und mit dem Brief, den er kürzlich von der Anwaltskanzlei Beddingham, Barnes und Stephens erhalten hatte.
Der Brief hatte unter einem großen Berg ungeöffneter Post gelegen, der sich angesammelt hatte, während er wegen seines letzten Auftrags unterwegs gewesen war. Frustriert von dem Fiasko, in dem dieser Fall geendet hatte, hatte Seth den ganzen Haufen Papier beiseitegeschoben und nicht vorgehabt, einen einzigen der Umschläge zu öffnen. Das meiste waren ohnehin Reklamebroschüren und Rechnungen gewesen.
Nur dieser eine Brief hatte ein Stück aus dem unordentlichen Stapel hervorgeschaut und seine Aufmerksamkeit auf sich gezogen, als seien seine Adresse und noch mehr der Absender mit einem Leuchtstift geschrieben.
Seth hatte den Brief aus dem Papierhaufen gezogen. Eine Anwaltskanzlei schrieb ihm? Was konnten die wollen? Drohte ein Dealer, den er zur Strecke gebracht hatte, ihm jetzt mit einem Disziplinarverfahren? Oder vertraten sie diesen widerlichen Kerl von nebenan, der zwei Mal die Woche seine
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