Bergrichters Erdenwallen
Tochter Emmy gedenken, und ein tiefer Seufzer entstieg seiner Brust. Wie schmerzlich, daß er, der Vater, das Glück seiner Tochter in seiner Eigenschaft als Untersuchungsrichter vernichten muß und wahrscheinlich auch die Existenz der Ratschillerschen Familie.
Wie freute es ihn, in allen bisherigen Fällen, wenn die sorgsam geführte Untersuchung erfolgreich durchgeführt werden konnte. Und diesmal bereitet die Untersuchung namenlose Qual.
Muß der Selbstmord amtlich und öffentlich klargelegt werden? Der Jurist bejaht die Frage; der gefühlvolle Mensch möchte sie verneinen.
Ehrenstraßer will vor allem das Motiv kennen lernen und deshalb ließ er den Gerichtsadjunkten zu sich bitten, der die Hinterlassenschaft dienstlich zu ordnen hat.
Hörhager war damit so weit gekommen, um aus den Papieren Ratschillers konstatieren zu können, daß Bargeld knapp ist.
„Passiv?“ fragte schier ängstlich der Richter.
„Nein! Die Außenstände sind sehr bedeutend. Alle Fälligkeiten der Firma in nächsten Zeiten sind mir noch nicht genügend bekannt.“
„War Ratschiller in einer Lebensversicherung?“
„Ja, und auffallend hoch versichert!“
„Bei welcher Gesellschaft?“
„Bei der Triestiner!“
„Die Triestiner zahlt meines Wissens Todesfälle durch Selbstmord nicht aus; ich werde in die Police Einsicht nehmen!“
„Es soll doch Raubmord vorliegen, nicht?“ warf Hörhager ein.
„Ich kann im jetzigen Stadium der Untersuchung keinen Aufschluß geben!“ erklärte Ehrenstraßer ausweichend.
„Bitte sehr! Ich dachte nur, unter Amtskollegen —!“
„Bedauere, heute ischt mir dies thatsächlich noch nicht möglich. Hingegen bitte ich um alle Papiere Ratschillers und überhaupt um den ganzen Akt, sobald Sie fertig sind!“
„Ich stehe zu Diensten, Herr Bezirksrichter!“ sagte Hörhager und entfernte sich etwas verstimmt.
Spät am Abend begab sich Ehrenstraßer nach Hause und sein erstes war, der armen Tochter Emmy Trost zuzusprechen, die sich in ihr Kämmerlein zurückgezogen hatte.
Wie schmerzlich war es dem Vater, andeuten zu müssen, daß die Verhältnisse nach dem plötzlichen Tode Ratschillers einen Verzicht auf die Verbindung nahelegen.
Unter Thränen fragte Emmy nach den Gründen, und Ehrenstraßer vermochte nur zu sagen: „Ich fürchte, es wird nicht anders gehen.“
„Hast du des Mörders Spur entdeckt, Papa?“
„Ich kann keine Auskunft geben, liebes Kind. Die Untersuchung ischt kaum eröffnet, geschweige denn abgeschlossen.“
Schluchzend warf sich Emmy an des Vaters Brust und flehte um seinen Beistand. Sie will Franz treu bleiben, auch wenn durch den Tod Ratschillers das Unglück über die schwer heimgesuchte Familie hereinbrechen sollte.
So tröstete denn Ehrenstraßer unter schmerzlichem Lächeln sein Kind und zog sich nach dem kurzen Abendimbiß in seine Stube zurück, wohin Bianca in ihrer Neugierde ihm folgen wollte.
Höflich, doch bestimmt lehnte Ehrenstraßer diese Begleitung ab, er will und muß allein sein, um den Fall zu studieren.
Beleidigt suchte die lebhafte Gattin die Kinderstube auf. Wozu hat man einen Beamten zum Gemahl, wenn man in interessanten Fällen aus der Untersuchung keine Mitteilungen erhält, dachte die Gattin, welche mit ihren Informationen im Falle Ratschiller gerne den befreundeten Damen gegenüber geprahlt hätte und nun so viel wie gar nichts weiß.
Am nächsten Morgen besuchte der Richter Franz Ratschiller im Komptoir und sprach ihm vor allem herzliches Beileid aus, wofür der schier gebrochene junge Mann innig dankte. Es war für Ehrenstraßer peinlich, Franz eröffnen zu müssen, daß die Untersuchung auch im Komptoir des Verstorbenen ihre Fortsetzung finden müsse, der unerbittliche Dienst kennt keine Rücksicht. So schonungsvoll als möglich erbat der Richter die Erlaubnis einer Nachsuche im Arbeitsgemache Ratschillers sen. und Ausfolgung der Pultschlüssel und, wiewohl verwundert ob solcher Bitte, die ja eigentlich ein Befehl ist, gab Franz die Schlüssel ab mit dem Beifügen, daß alle Papiere von dem Gerichtsadjunkten bereits abgenommen worden seien.
Ehrenstraßer befand sich allein im Arbeitsraume des toten Fabrikherrn, und schloß Fach um Fach zunächst des Schreibpultes auf. Ein Lädchen im Innersten enthielt die Uhr und die offensichtlich abgezwickte Kette, an welcher der Befestigungsring fehlte.
„Also doch! Glied um Glied reiht sich aneinander!“ flüsterte Ehrenstraßer, der im nächsten Lädchen das vermißte Portefeuille
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