Berlin 1961 - Kennedy, Chruschtschow und der gefährlichste Ort der Welt
habe. Die
Russen wüssten sehr wohl, dass sie, relativ gesehen, jetzt stärker seien als vor zwölf Jahren, ergänzte Kennedy.
Lord Home befürchtete, dass Chruschtschow durch die Schwierigkeiten mit den ostdeutschen Flüchtlingen und durch die damit verbundenen Probleme mit anderen Satellitenstaaten in Berlin zum Handeln gezwungen sein könnte. Chruschtschow »könnte das Gefühl haben, dass er einen Weg finden muss, um das alles zu beenden«, sagte der britische Außenminister. Wenn Chruschtschow seine neue Denkschrift über Berlin veröffentliche, werde dies den Westen in eine schwierige Lage bringen, da »sie oberflächlich betrachtet ganz vernünftig klingt«, meinte Home.
Kennedy bat dann die Briten um Hilfe bei der Konzeption einer Rede, die er am nächsten Tag in Washington halten würde. Er wollte darin Chruschtschows Ansichten darlegen, die westlichen Verpflichtungen gegenüber West-berlin auf stärkste Weise bekräftigen und erneut das Recht der Berliner betonen, über ihre Zukunft frei bestimmen zu können. Macmillan fand dann zu einer gewissen Zuversicht zurück: »Was immer in anderen Teilen der Welt passieren mag, in Berlin wird auf jeden Fall der Westen gewinnen. Es ist eine ziemlich schlechte Werbung für das sowjetische System, dass so viele Menschen das kommunistische Paradies verlassen wollen.«
Kennedy und Macmillan vereinbarten, die Planungen für militärische und sonstige Eventualfälle in Berlin voranzutreiben. Besonderer Nachdruck sollte dabei auf die Reaktionsmöglichkeiten des Westens in drei Fällen gelegt werden: 1. Die Russen unterzeichnen einen Vertrag mit Ostdeutschland. 2. Nach der Unterzeichnung eines Vertrags wird die zivile Versorgung Westberlins unterbrochen, und/oder 3. Der westliche militärische Nachschub wird gestört. 44 Home schlug am Ende Kennedy vor, den Sowjets Gegenvorschläge zu ihrer Denkschrift vorzulegen. Dies lehnte Kennedy jedoch ab, da er befürchtete, ein Vorschlag zu Berlin-Verhandlungen könnte als »Zeichen der Schwäche« ausgelegt werden.
Auf dem Rückflug in die Vereinigten Staaten setzte sich der Präsident in Shorts mit seinen wichtigsten Beratern zusammen. 45 Seine Augen waren gerötet und wässrig und verrieten, wie todmüde er war. In seinem Rücken pochte der Schmerz. Auch Kennedy würde nie sicher sagen können, in welchem Maße seine Krankheiten und die vielen Mittelchen, die er dagegen eingenommen hatte, sein Auftreten in Wien beeinträchtigt hatten. Er schüttelte den Kopf und schaute auf seine Füße hinunter. Einmal umfasste er seine nackten
Beine und murmelte etwas über Chruschtschows unnachgiebige Art und welche Gefahren sie in sich bergen könnte.
Kennedy teilte dann seiner Sekretärin Evelyn Lincoln mit, er werde sich jetzt etwas hinlegen, um sich auf den bevorstehenden schweren Tag in Washington vorzubereiten. 46 Er bat sie, die geheimen Dokumente, die er zuvor durchgeschaut hatte, wieder sicher abzulegen. Inmitten der Schriftstücke fand sie ein kleines Blatt Papier, auf das Kennedy zwei Zeilen gekritzelt hatte:
Ich weiß, es gibt einen Gott – und ich sehe einen Sturm heraufziehen. Wenn Er einen Platz für mich hat, glaube ich, bin ich dafür bereit.
Lincoln wusste nicht, was sie mit diesem Stück Papier anfangen sollte, aber es machte ihr Angst. Sie konnte nicht wissen, dass Kennedy aus dem Gedächtnis ein Zitat von Abraham Lincoln niedergeschrieben hatte, das dieser im Frühjahr 1860 gegenüber dem Schulinspektor von Illinois, Newton Bateman, angeführt hatte. Dabei ging es um Lincolns Entschlossenheit, die Sklaverei zu beenden. Im Gegensatz zu Evelyn Lincolns Interpretation äußerte Kennedy hier also keine Todesgedanken, sondern erklärte sich bereit, die ihm vom Schicksal auferlegte Aufgabe zu übernehmen.
Nach der Rückkehr aus Wien setzte sich Robert Kennedy mit seinem Bruder zusammen. Tränen rannen über die Wangen des Präsidenten. Grund hierfür waren neben dem ungeheuren Stress, unter dem er stand, auch die Entscheidungen, die er bald zu treffen hatte. Bobby erinnerte sich später: »Ich habe meinen Bruder noch nie über so etwas weinen sehen. Ich war mit ihm oben im Schlafzimmer, und er sah mich an und sagte: ›Bobby, wenn es zu einer nuklearen Auseinandersetzung kommt, geht es nicht um uns. Wir hatten ein schönes Leben, wir sind erwachsen. Wir mischen ja selbst bei diesen Dingen mit. Doch den Gedanken, dass Frauen und Kinder bei einem Atomkrieg umkommen, kann ich nicht ertragen.« 47
Der Journalist Stewart
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