Berlin 1961 - Kennedy, Chruschtschow und der gefährlichste Ort der Welt
nahebringen, das inzwischen fast schon zu einem Teil seiner eigenen Mannschaft geworden war? Sollte er es doch noch als ein »in freundlicher Atmosphäre« abgelaufenes Gespräch darstellen, wie es sein Sowjetexperte Bohlen auf seine Anweisung hin gerade in seinen schon zuvor angesetzten Pressebriefings tat?
Nein. Kennedy entschloss sich, seinen Pressesprecher Pierre Salinger in Wien zurückzulassen. 30 Dort sollte er die wichtigsten Korrespondenten der Medienindustrie über den »düsteren« Ausgang des Treffens informieren. Vor seinem Abflug traf sich der Präsident selbst noch privat in einem Zimmer der Botschaftsresidenz mit dem New-York-Times- Journalisten James »Scotty« Reston. Zuvor erzählte er O’Donnell, er wolle den Amerikanern »den Ernst der Lage nahebringen, und die New York Times ist dafür genau der richtige Ort. Ich werde Scotty ein finsteres Bild der Situation liefern«.
Dennoch konnte er sich immer noch nicht vorstellen, dass Chruschtschow seine Berlin-Drohung wirklich wahr machen würde. Vielleicht hatte de Gaulle recht gehabt, dass Chruschtschow bluffen und sich aufplustern und trotzdem in Berlin wie bisher auf Zeit spielen werde. »Jeder, der so spricht, wie er es heute getan hat, und es dann wirklich so meint, müsste verrückt sein, und ich bin mir sicher, er ist nicht verrückt«, hatte Kennedy O’Donnell erzählt, obwohl er sich dessen selbst nicht ganz sicher war.
Mit seinen zwei undfünfzig Jahren hatte der gebürtige Schotte Reston bereits zwei Pulitzer-Preise gewonnen und war vielleicht der einflussreichste und meistgelesene Journalist in Washington. Wie gewöhnlich trug er einen Tweedanzug und eine Fliege und kaute an seiner Briar-Pfeife, als Kennedy ihm über den Verlauf seiner Unterredungen mit Chruschtschow berichtete. Die einzige Bedingung war gewesen, dass er den Präsidenten weder zitieren noch überhaupt etwas über ihr privates Treffen verlauten lassen dürfe.
Kennedy trug einen Hut, den er sich tief in die Stirn zog, als er sich neben Reston auf das Sofa fallen ließ. Es würde eines der freimütigsten Gespräche werden, die jemals ein amerikanischer Präsident mit einem Reporter geführt hatte.
Auf dem Wiener Gipfeltreffen hatten sich eintausendfünfhundert andere Reporter ständig um einen näheren Zugang zu Kennedy gestritten. Jetzt ein Exklusivinterview mit diesem zu bekommen, war für Reston ein ganz besonderer Coup, und dies gerade in der neuen TV-Ära, die er so sehr verabscheute. Noch bedeutsamer war jedoch, was Kennedy ihm in diesem abgedunkelten Raum mitzuteilen hatte. Tatsächlich hatte man die Vorhänge zugezogen, um das Treffen vor allen potenziellen Beobachtern abzuschirmen.
»Wie war’s?«, fragte Reston. 31
»Das Schlimmste, was ich jemals erlebt habe«, antwortete Kennedy. »Er hat mich fertiggemacht.«
Reston kritzelte in sein Notizbuch: »Nicht der übliche Bockmist. Er schaut aus wie ein Mann, der die Wahrheit loswerden muss.«
Kennedy, der neben Reston fast im Sofa versank, erzählte, dass ihm Chruschtschow heftig den amerikanischen Imperialismus vorgehalten habe. Dabei habe er sich besonders auf Berlin eingeschossen.
»Ich habe jetzt zwei Probleme«, rekapitulierte der US-Präsident. »Erstens, herauszufinden, warum er das gemacht hat, und das noch auf eine solch feindselige Weise. Zweitens, herauszufinden, wie wir darauf reagieren sollen. «
In seinen New-York-Times- Artikeln, 32 in denen er die Vertraulichkeit seines Treffens mit Kennedy sorgfältig wahrte, schloss Reston ganz richtig, dass der Präsident »über die Unnachgiebigkeit und Härte des Sowjetführers erstaunt war«. Es habe erbitterte Diskussionen gegeben. Kennedy habe Wien bezüglich einer ganzen Reihe von Problemen äußerst pessimistisch verlassen. Vor allem habe der Präsident »definitiv den Eindruck gewonnen, dass es in der deutschen Frage äußerst eng werden würde«.
Kennedy erklärte Reston, 33 dass Chruschtschow wegen des Schweinebucht-Desasters »dachte, dass jemand, der so jung und unerfahren ist, dass er in einen solchen Schlamassel gerät, leicht zu packen ist. Und wer da hineingerät und es dann nicht durchzieht, der hat keinen Mumm. Deswegen machte er mir die Hölle heiß […], und ich habe jetzt ein schreckliches Problem.«
Kennedy hatte jedoch bereits die sich daraus ergebenden Gefahren, und wie er damit umgehen musste, analysiert: »Wenn er glaubt, ich sei unerfahren und hätte keinen Mumm, dann werden wir so lange nichts bei ihm erreichen, bis wir
Weitere Kostenlose Bücher