Berlin 1961 - Kennedy, Chruschtschow und der gefährlichste Ort der Welt
Alsop, ein langjähriger Freund des Präsidenten, hatte Kennedy bei dessen Besuch in London gesehen, als er in der römischkatholischen Westminster Cathedral der Taufe des neugeborenen Kindes von Stanisław Radziwill beiwohnte, dessen dritte Frau Lee Bouvier Jacqueline Kennedys jüngere Schwester war. 48 Es war eine große Feier, an der auch der Premierminister und die ganze Kennedy-Familie teilnahmen. Der Präsident bugsierte Alsop noch während der Feier in eine Ecke der Kirche und erzählte ihm fünfzehn Minuten lang, was er gerade durchgemacht hatte. »Ich hatte das
Gefühl, dass das Ganze für ihn ein riesiger Schock gewesen war, den er gerade erst zu verdauen begann.« 49
Alsop hatte die Invasion in der Schweinebucht als den Moment betrachtet, der »Kennedy von allen Illusionen geheilt hatte, dass er immer Erfolg haben würde« – eine Einstellung, die nach seinem bisherigen Leben vielleicht verständlich war, in dem er nur wenige Niederlagen einstecken musste. Der Wiener Gipfel war nach Alsops Ansicht für den US-Präsidenten jedoch eine noch schwerwiegendere Erfahrung. Während ihn Kuba gelehrt hatte, dass auch eine große Sache scheitern kann, ging es jetzt um einen möglichen Fehlschlag, der zu einem Atomkrieg führen konnte.
Kennedy war nun genau vier Monate und sechzehn Tage im Amt, aber Alsop glaubte, dass er erst in Wien tatsächlich zum amerikanischen Oberbefehlshaber wurde. Er hatte sich dort der brutalen Art seines Gegners stellen müssen und wusste jetzt, dass ihre Auseinandersetzung in Berlin ausgetragen werden würde.
»Erst danach wurde er zum Präsidenten in der vollen Bedeutung des Wortes«, war sich Alsop sicher.
OSTBERLIN
MITTWOCH, 7. JUNI 1961
Der Erste Parteisekretär der SED, Walter Ulbricht, konnte sein Glück kaum fassen, als ihn der sowjetische Botschafter in der DDR, Michail Perwuchin, über den Verlauf der Wiener Gespräche informierte. 50 Seine Zufriedenheit wuchs sogar noch, als er weitere Details von führenden Offizieren der sowjetischen Hochkommission in Karlshorst erfuhr, mit denen er schließlich fast an jedem seiner Arbeitstage telefonierte.
Die Manöver der vergangenen drei Tage und Nächte, die von Einheiten der Nationalen Volksarmee zusammen mit sowjetischen Besatzungstruppen durchgeführt worden waren, hatten bewiesen, dass Ulbricht militärisch auf alles vorbereitet war, was ihm der Westen entgegenstellen konnte, wenn Chruschtschow in Berlin tätig werden würde. Ulbrichts Soldaten hatten auch den sowjetischen Verteidigungsminister Rodion Malinowski und den Oberkommandierenden der Streitkräfte des Warschauer Pakts Andrej Gretschko beeindruckt, die die gemeinsame Übung für wichtig genug gehalten hatten, um sie selbst zu überwachen.
Die ostdeutschen Soldaten hatten sich im Feld als weit fähiger erwiesen, als es die sowjetischen Offiziere erwartet hatten.
Nach dem Ende seines üblichen Zwölfstundentags ließ sich Ulbricht in guter Stimmung zu seinem neuen Haus in Wandlitz fahren, das 35 Kilometer nordöstlich von Berlin am Rand eines dichten Waldes lag. Ulbricht war seit Monaten, wenn nicht Jahren, nicht mehr so optimistisch gewesen wie jetzt, als sein Fahrer ihn an den gepflegten Gärten und Stuckvillen von Pankow vorbeichauffierte.
Perwuchin hatte ihm eine Kopie der sowjetischen Note mitgebracht, die Chruschtschow Kennedy in Wien überreicht hatte. Viele Vorstellungen Ulbrichts über die Zukunft Berlins, die er unermüdlich über mehrere Monate dem Kremlchef in zahlreichen Briefen unterbreitet hatte, waren in dieser Denkschrift von Chruschtschow aufgegriffen worden. Perwuchin teilte Ulbricht mit, dass Moskau das Dokument in zwei Tagen veröffentlichen werde.
Ulbricht war zuversichtlich, dass Chruschtschow sein neues Berlin-Ultimatum dieses Mal nicht einfach zurücknehmen konnte. Außerdem verschärfte der Kreml gerade auch in anderer Hinsicht die Sprache, wenn es um deutsche Angelegenheiten ging. So hatte Außenminister Gromyko vor kurzem der britischen, französischen und amerikanischen Botschaft in Moskau drei scharf formulierte Noten zukommen lassen, in denen die Sowjetunion entschieden gegen die Entscheidung von Bundeskanzler Adenauer protestierte, am 16. Juni in Westberlin eine Plenarsitzung des Bundesrats abzuhalten. Gromyko nannte diesen Schritt eine »gewichtige neue Provokation« gegen alle sozialistischen Staaten.
Nachdem er Chruschtschow so lange bedrängt hatte, schrieb Ulbricht dem Sowjetführer jetzt einen Brief, der vor Dankbarkeit nur so
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