Berlin blutrot
die Batterie der Hausbriefkästen, denn sie störten jetzt nur. An der Arztpraxis vorbei stieg er die Treppen hinauf. Heute war sein Tag, das fühlte er ganz genau. Und richtig, in der dritten Etage war eine der schön verzierten Wohnungstüren nur angelehnt. Gennoch zögerte nicht lange und drückte sie auf. Schon stand er in einem langen Korridor. Wo mochte das Zimmer sein, in dem es am meisten zu holen gab? Er entschied sich für die erste Tür rechts. Als er die Klinke nach unten drückte, hörte er aus den Tiefen der Wohnung eine männliche Stimme
„Patrick, bist du’s …?“
„Ja-ha …“ hauchte er mit möglichst ungewisser Stimme
Und es schien zu klappen, niemand erschien, um ihn in Augenschein zu nehmen. Er war in ein Wohnzimmer geraten, eines, wie er sie nur aus dem Kino kannte. Ihm schien es mehr eine Galerie zu sein, denn an den weiß getünchten Wänden hing ein Gemälde neben dem anderen. Farbschmierereien. Es gab nur einen Schrank, einen sehr teuren, und schnell hatte er die erste
Schublade aufgerissen. Da lag ein Bündel von 100-Euro-Scheinen, von einem Gummiband zusammengehalten. Er konnte sein Glück nicht fassen und ließ das Geld in seiner Hosentasche verschwinden
Doch dieses Glück währte nur Sekunden, da stand der Wohnungsinhaber in der Tür
„Was machen Sie denn hier …!?“
Damian Dritter hatte beschlossen, den Rat seiner Therapeutin zu befolgen und selbst aktiv zu werden. Er solle sich doch einmal mit diesem MacÄtz in Verbindung setzen. „Suchen Sie das persönliche Gespräch mit ihm, solche Leute haben es gern, wenn man ihnen huldigt.“ Und in der Tat hatte Atzert auf seine E-Mail geantwortet. Er möge doch am nächsten Dienstag um 15 Uhr bei ihm vorbeikommen.
Weit war es nicht, denn Dritter wohnte in der Hildegardstraße, und die nahm ihren Anfang am Bundesplatz, dort, wo Martin Atzert zu Hause war. Hier stießen die alten Bezirke Schöneberg und Wilmersdorf aneinander, und um 1900 waren ringsum stattliche bis protzige Mietshäuser entstanden. Stolz hatte man dem Mittelpunkt des neuen städtebaulichen Ensembles den Namen Kaiserplatz gegeben. Um die Zugehörigkeit zur Bundesrepublik – das heißt: zum Bund – zu unterstreichen, war zu West- Berliner Zeiten der Kaiser geopfert worden.
Heute galt die Gegend als gutbürgerlich bis spießig, siehe die Wilmersdorfer Witwen im Musical Linie 1. Der nahe Stadtteil Friedenau allerdings war ein Hort der Hochkultur, hatten die Hohepriester der Literatur doch ihren Nobelpreis zweimal Bewohnern dieses Viertels zukommen lassen, erst Günter Grass, dann Hertha Müller. An Preise zu denken, die er nie bekommen würde, schmerzte Damian Dritter wie ein Kolbenhieb, und er dachte an Fontanes Sentenz: „Wie viel kann das Leben geben, aber wie wenigen nur.“
Zu sagen, Dritter würde den Bundesplatz lieben, wäre übertrieben gewesen. Er war für ihn eher eine Mogelpackung, denn Bäume und Sträucher verdeckten die Einfahrt zum mehrspurigen Autotunnel, und viel Platz für einen richtigen Platz gab es nicht mehr. Geblieben war da, wo Wex- und Detmolder Straße aneinander stießen, ein eher schäbiges Plätzchen mit ein paar Blumen und Bänken, die zumeist von Stadtstreichern frequentiert wurden, einer Statue mit Speeren oder Stacheln und einer Bezahl-Toilette.
Als Dritter unten an der Haustür das Namensschild Atzerts gefunden und auf den schwarzen Klingelknopf gedrückt hatte, gab es oben keinerlei Action. Auch nach einem weiteren Versuch tat sich nichts. Keine quäkende Stimme bat ihn, doch bitte nach oben zu kommen. Dritter war enttäuscht, konnte sich aber nicht vorstellen, dass Atzert den Termin vergessen hatte. Vielleicht waren Klingel und Gegensprechanlage kaputt. Als nun jemand die Treppe herunter kam und das Haus verließ, nutzte er die Chance, um hineinzukommen. Einen Stillen Portier gab es nicht, und so stieg er Stockwerk für Stockwerk nach oben. Als er bei Atzert angekommen war, fand er die Wohnungstür nur angelehnt. Er klingelte kurz und rief dann, als sich drinnen nichts rührte, mehrmals nach Martin Atzert. Keine Antwort. Dritter überlegte einen Augenblick, dann drückte er die Tür vollends auf.
„Herr Atzert …?“
Wieder nichts. Dritter wagte sich weiter vor, um in die einzelnen Zimmer zu sehen. Er war zu sehr eingefleischter Krimiautor, als dass er nicht mit einem professionellen Reflex gedacht hätte: Den wird gerade jemand ermordet haben, der wird tot auf´m Teppich liegen … Und so schrie er nicht einmal auf,
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