Tiefe
Henning Mankell
Tiefe
ROMAN
Aus dem Schwedischen von Verena Reiche!
Paul Zsolnay Verlag
Teil 1 DAS GEHEIME GESPÜR FÜRS LOT
Es hieß, die Schreie der Irren seien bei Windstille übers Meer zu hören.
Besonders im Herbst. Die Schreie gehörten zum Herbst.
Im Herbst beginnt auch diese Geschichte. Mit feuchtem Nebel, ein paar zögernden Wärmegraden und einer Frau, die plötzlich erkennt, daß sie der Freiheit nahe ist. Sie hat ein Loch in einem Zaun entdeckt.
Es ist Herbst 1937. Die Frau, Kristina Tacker, war viele Jahre in der großen Nervenklinik außerhalb von Säter eingesperrt. Gedanken an Zeit hatten für sie jeden Sinn verloren.
Lange betrachtet sie das Loch, als würde sie seine Bedeutung zunächst nicht verstehen. Der Zaun war stets wie eine Hülle, der sie nicht zu nahe kommen sollte. Er ist eine Grenze mit einer ganz bestimmten Bedeutung. Aber diese plötzliche Abweichung? Dieser Punkt, an dem der Zaun aufgebrochen ist? Zu dem, was eben noch verbotenes Terrain war, ist von unbekannter Hand ein Tor geöffnet worden. Es dauert lange, bis sie es begreift. Dann kriecht sie vorsichtig durch das Loch und befindet sich außerhalb des Zauns. Sie steht regungslos und horcht, den Kopf zwischen die angespannten Schultern gezogen, gewärtig, daß jemand kommt und sie packt.
Während der zweiundzwanzig Jahre, die sie in der Nervenheilanstalt eingesperrt war, hatte sie nie das Gefühl, von Menschen umgeben zu sein, sondern von Atemzügen. Die Atemzüge waren ihre unsichtbaren Wärter.
Hinter ihr liegen die schweren Körper der Häuser wie schlummernde Raubtiere, zum Sprung bereit. Sie wartet.
Die Zeit gibt es nicht mehr. Niemand kommt und zwingt sie zur Rückkehr.
Erst nach langem Zögern tut sie einen Schritt nach vorn, dann noch einen, und verschwindet zwischen den Bäumen.
Sie befindet sich in einem Nadelwald. Es riecht scharf, wie von brünstigen Pferden. Sie meint einen Pfad am Boden zu ahnen. Sie bewegt sich langsam, und erst als sie den schweren Atem der Nervenheilanstalt nicht mehr spürt, wagt sie es, sich umzudrehen.
Um sie herum gibt es nur Bäume. Daß der Pfad eine Einbildung war und jetzt verschwunden ist, kümmert sie nicht, da sie ohnehin kein Ziel hat. Sie ist wie ein Baugerüst um einen leeren Raum herum. Es gibt sie nicht. Innerhalb dieses Baugerüsts ist weder ein Haus noch ein Mensch entstanden.
Da draußen im Wald bewegt sie sich sehr schnell, als hätte sie trotz allem ein Ziel zwischen den Bäumen. Aber oft steht sie auch ganz still, als wäre sie im Begriff, sich selbst in einen Baum zu verwandeln.
Im Nadelwald existiert keine Zeit. Nur Holzstämme, vor allem Kiefern, hin und wieder Tannen. Und Sonnenstrahlen, die lautlos auf die feuchte Erde treffen.
Sie beginnt zu zittern. Ein Schmerz kommt unter der Haut angekrochen. Erst glaubt sie, es sei dieser entsetzliche Juckreiz, der sie mitunter überfällt, so daß den Pflegern nichts anderes übrigbleibt, als sie anzuschnallen, damit sie nicht ihre Haut zerkratzt. Dann erkennt sie, daß es etwas anderes ist, was sie zittern macht.
Sie erinnert sich, daß sie dereinst einen Mann hatte.
Woher der Gedanke kommt, weiß sie nicht. Aber sie erinnert sich ganz deutlich, daß sie verheiratet war. Er hieß Lars, daran erinnert sie sich. Er hatte eine Narbe über dem linken Auge und war dreiundzwanzig Zentimeter größer als sie. An mehr kann sie sich im Augenblick nicht erinnern. Alles andere hat sie verdrängt und in die Dunkelheit verwiesen, die sie in sich trägt.
Doch die Erinnerung kehrt zurück. Sie sieht sich verwirrt zwischen den Stämmen des Nadelwalds um. Warum fällt ihr hier ihr Mann ein? Er, der den Wald haßte und den es immer zum Meer zog? Er, der Kadett war und später Seevermesser und Marinekapitän mit geheimen militärischen Aufträgen?
Der Nebel weicht, er verflüchtigt sich lautlos.
Sie steht völlig regungslos da. Irgendwo flattert ein Vogel auf. Dann ist es wieder still.
Mein Mann, denkt Kristina Tacker. Einst hatte ich einen Mann, unsere Leben berührten sich, umschlossen uns. Warum erinnere ich mich jetzt an ihn, kaum daß ich ein Loch im Zaun gefunden und all die mich bewachenden Raubtiere hinter mir gelassen habe?
Sie sucht in ihrem Kopf und bei den Bäumen nach einer Antwort.
Da ist nichts. Da ist überhaupt nichts.
Spätabends finden die Wärter Kristina Tacker. Es herrscht Frost, der Boden knirscht unter den Füßen. Sie steht regungslos in der Dunkelheit und starrt auf einen Baumstamm. Was sie
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