Berlin Fidschitown (German Edition)
immerhin auf vierzig Kilometer pro Stunde.
Rojana sah auf die Uhr und grinste den Polizisten aufmunternd an. Der Mann arbeitete gut. Normalerweise hätte er die Kröte direkt zum nächsten Revier gefahren, um dort Anzeige zu erstatten. Unter den gegebenen Umständen zog er eine angemessene Entschädigung in Betracht.
Die Psyche eines Polizisten gab Rojana keine Rätsel auf.
8
Das alte Gemäuer in der Keithstraße 30 sah an diesem hellen Wintertag einigermaßen freundlich aus, auch wenn die Nachmittagssonne langsam an Kraft verlor.
Romy Asbach stand auf dem gegenüberliegenden Gehsteig und starrte auf die Front mit den grob behauenen Steinen und den altmodisch hohen Fenstern. Unter der Hausnummer hing das grüne Schild mit dem Wappen des Berliner Bären im goldenen Polizeistern. Delikte am Menschen. Ihr ehemaliger Arbeitsplatz. Wie oft hatte sie die Eingangshalle betreten und den vertrauten Zivilisten im Auskunftsschalter gegrüßt, bevor sie die Freitreppe in den ersten Stock hinaufgestiegen war? Wie oft hatte sie einen Blick auf die runde Uhr geworfen, die mit ihren goldenen Zahlen auf einem schwarzen Ziffernblatt wie ein Symbol unter der Decke hing? Was trieb sie her? Die Erinnerung daran, ein gut Teil ihres Handwerks in dieser Dienststelle gelernt zu haben – oder die Bitterkeit darüber, gerade hier eine erste empfindliche Niederlage erlitten zu haben? Damals war ihr kein Fehler unterlaufen. Sie war an der Politik gescheitert. Die Amis hatten sie an das Besatzungsrecht erinnert, das in Westberlin galt. Eine Deutsche war von einem GI vergewaltigt und erwürgt worden. Nicht von dem Schwarzen, der lange unter Verdacht stand. Und kaum hatte sie den weißen Täter überführt, nahm ihr die Militärpolizei den Fall aus der Hand und setzte den Mann in einen Flieger nach Frankfurt am Main und weiter nach New York.
Sie ging zu ihrem Opel, der am Randstein parkte, stieg ein und fuhr los.
Die Alliierten hatten sich in jenen Tagen in allen Bereichen die Oberste Gewalt bewahrt. Dazu gehörte auch die Befehlsbefugnis über die Berliner Polizei. Obwohl die Stadt unter den westlichen Verbündeten stillschweigend wie ein Land der Bundesrepublik behandelt wurde, übte die Regierung in Bonn keine legal authority über das Gebiet aus. Angehörige der Schutzstreitkräfte genossen Immunität und waren der deutschen Strafverfolgung entzogen, wenn ihre Vorgesetzten keine ausdrückliche Genehmigung erteilten. Sie hatte ihre Genehmigung jedenfalls nicht bekommen.
Heutzutage lagen die Dinge anders. Was sie damals als Einschränkung empfunden hatte, war auch mit vielen Vorteilen und Erleichterungen bei der Verbrechensbekämpfung verbunden gewesen, wie sie nach dem Fall der Mauer schmerzlich erfahren sollte. Nun war der frühere Hochsicherheitstrakt plötzlich offen und jeder Gangster wollte rein, in der Gewissheit, jederzeit wieder rauszukönnen, und zwar mit der Beute. Er konnte sogar dableiben und jede Art von Gewinn transferieren. Im guten alten Westberlin hatte sich nicht mal organisierter Autodiebstahl gelohnt.
In Kreuzberg nahm sie den Mehringdamm in Richtung Flughafen Tempelhof, bis die Naziarchitektur am Platz der Luftbrücke vor ihr auftauchte. Sie parkte und ging zum Eingang des Polizeipräsidiums. Auch hier nur alte Erinnerungen. Nebenan, bei der 7350. Fliegerhorstgruppe der US-Luftwaffe, hatte sie den Vergewaltiger und Mörder gefunden. Leider ohne ihn verhaften zu können.
Aber wie hatte schon jener Udo Wetzlaugk, einer ihrer Lieblingsautoren zum Alliierten Recht, so treffend formuliert? Freilich ist einzuräumen, dass die komplizierte Berliner Gemengelage herkömmliche Definitionen überfordert; sie versagt sich der verbreiteten deutschen Neigung, unzweideutige Formeln zu prägen und anzuwenden . Der Satz galt damals wie heute. Die neue Mischung aus Osteuropäern, Russen, Asiaten und dem vorderen Orient hatte es in sich.
Zügig marschierte sie zur Gedenkstätte, durch die leichte Biegung der Eingangshalle, vorbei an den Säulen vor den bunten Glasfenstern. Vor dem Pult blieb sie stehen. Unter der Plexiglashaube lag das aufgeschlagene Erinnerungsalbum. Franziska Winter lächelte sie an. Heute war Franziskas Todestag. Nicht, dass dieses ganz spezielle Datum etwas am Ritual geändert hätte. Wenn möglich, kam sie jede Woche für eine Gedenkminute vorbei.
Auf dem Foto sah Franziska genau so aus, wie sie sie in Erinnerung behalten hatte: gut gelaunt und optimistisch. Eine loyale Kollegin, auf die Verlass gewesen war
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