Berlin Fidschitown (German Edition)
Flasche Duscheleit Gold Brand in die Manteltasche. „Taxi kommt.“ Er hob die Hand zu einem müden Winken. „Also dann – ick muss jezz zum Aamndessen.“
Erna lächelte verständnisvoll. „Wat serviat de Heilsarmee denn heute?“
„Vonwejen Obdachlosenkost.“ Rudi wischte sich einen Tropfen von der Nase. „Ick jehe zu mein Chinesen. Janz wat Feinet.“
„Chinese?“
„Tschingis Khan. Mein neuet Stammlokal.“
„Und wo iss det?“
„Werde ick jerade dir verraten. Hätse wohl jerne, wa?“
Lauter werdendes Grollen kündete den einfahrenden Zug an, während ein Halbstarker mit breiten Schultern und Stiernacken Rudi ungeduldig zur Seite schob. „Jetzt mach endlich mal Platz, Mann.“
Rudi hielt die Stellung und sah dem Jungen trotzig ins Gesicht.
„Wenn du schwerhörig bist, nimm die Kopfhörer ab oder dreh die Musik leiser“, blaffte der Rabauke und wandte sich der Verkäuferin zu. „Ich krieg die neue ...“
„Det sinn Ohrwärmer“, unterbrach Erna. Der Zug donnerte in die Station, und Rudi war schon unterwegs zur Bahnsteigkante.
Der Halbstarke sah ihm nach und schüttelte den Kopf. „Rosa Ohrwärmer?“ Er sah die Frau im Kiosk an. „Na ja, muss ja wohl auch schwule Penner geben. Also, für mich einmal die neue Mega Fun .“
Die Bahnhofslautsprecher knackten laut, bevor eine scheppernde Durchsage erfolgte.
„Sehr verehrte Fahrgäste. Aufgrund technischer Probleme ist der Zugverkehr auf den Linien 1 und 2 zwischen Wittenbergplatz und Nollendorfplatz derzeit unregelmäßig. Wir bitten um Ihr Verständnis.“
„Hat sich ma wieda einer vorn Zuch jeworfen.“ Erna reichte die Zeitschrift nach draußen durch und sah, wie Mollen-Rudi ihr aus einem Wagon zuprostete, bevor er sich einen Schluck aus dem Flachmann genehmigte.
Die Türleuchten des Zuges blinkten orange auf, begleitet vom Hupen des Warntons. Mit einem Zischen schlossen die Türen, und der Zug verschwand ratternd im Tunnel.
3
Mit dem vierten Schuss erwischte Rojana nur noch die Knitterfalten in der braunen Uniformhose des Polizisten.
Er nutzte die Lücke zwischen dem Oberschenkel des Polizeioffiziers und der Taille des Ambulanzfahrers. Der Verschluss der Spiegelreflexkamera winselte dreimal, bevor die Schaulustigen beide Männer enger aneinander drückten. Die Menge war stumm vor Entsetzen, aber Sensationsgier trieb sie wie in Wellenbewegungen immer näher zum Opfer. Der Polizist winkte zum Tempeleingang. Vier Uniformierte kamen ihm zur Hilfe und trieben die Zuschauer mit Worten und ohne jeden Körpereinsatz auseinander.
Rojana schob sich mit dem leitenden Offizier, dem Arzt und der Ambulanz bis zur Leiche durch. Mit hundertzehn gut verteilten Kilo auf einen Meter neunzig war er ein Riese unter Zwergen. Aber nicht nur seine Gestalt bewahrte ihn vor Widerspruch. Die Thais kannten ihn. Als Reporter war er eine Institution. Diejenigen Gaffer, die ihn erst jetzt zu Gesicht bekamen, machten flüsternd Platz, und auch die Davids in Uniform nahmen Goliaths Erscheinen wie etwas Unvermeidbares hin und versuchten ihn, so gut es ging, zu ignorieren.
Es war wieder ein Mädchen.
Das vierte Opfer. Das gleiche Muster. Wieder in einem Tempel deponiert. Erneut in Chinatown. Rojana fotografierte den Leichnam aus verschiedenen Perspektiven. Die Beine der Toten waren auf dem Boden ausgestreckt. Ihr Rücken lehnte am Sockel einer der Buddhastatuen, die vergoldet und zahlreich die überdachten Außenwände des Innenhofs zierten. Die Position des Mädchens erinnerte Rojana an die Haltung, die drei Jahrhunderte zuvor siamesische Edelleute, die sich schwerer Verbrechen schuldig gemacht hatten, bei ihrer Hinrichtung hatten einnehmen müssen: mit dem Rücken an einen Pfahl gefesselt. Immer wieder betätigte er den Auslöser und meinte dabei Schwertstreiche zu hören, die klebrige Luft und Nackenwirbel durchtrennten. Die beiden Scharfrichter tanzten um das jeweilige Opfer, das nicht einmal ahnen durfte, wer den Tod austeilte, damit es seinen Schlächter nicht noch in letzter Sekunde mit einem Fluch belegen konnte.
Der Singsang der Mönche, der aus dem Gebäude im Zentrum des Innenhofs herüberklang, holte Rojana in die Wirklichkeit zurück. Der Alltag im Wat Pathum Khongka ignorierte den Tod. Der Tempel war hundert Jahre älter als die Metropole, und im Laufe zweier Jahrhunderte war er zu einer Oase inmitten des Chaos geworden.
Die Offiziellen warteten geduldig, bis er seinen Job erledigt hatte. Dann gingen auch sie ihrer Routine nach. Tony Rojana
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