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Berlin Gothic: Thriller

Berlin Gothic: Thriller

Titel: Berlin Gothic: Thriller Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonas Winner
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so vor, als wüsste ich gar nicht mehr, wie er aussah. Es ist so lange her … es hat sich soviel verändert … ich habe mich verändert …
    Dann wieder sehe ich ihn vor mir, das glatte, fast schwarze Haar, das hinter seinen Ohren absteht, die hellen Augen mit dem durchdringenden Blick.
    Max.
    Max Bentheim.
     
     
     


     
    Rückblende: Vor zwölf Jahren
     
    Tick tick tick tick tick tick …
    Max Bentheim starrte auf die Eieruhr, die oben auf dem Flügel stand. Noch knapp vierzig Minuten. Aber er würde sich nicht unterkriegen lassen. Es war nicht das erste Mal, dass er Klavier üben musste - und es würde auch nicht das letzte Mal sein. Also hatte es auch keinen Sinn, sich hineinzusteigern, wie unerträglich, entsetzlich, unglaublich es sein würde. Er musste einfach nur ein bisschen auf den Tasten herumklimpern, dann würde die Zeit schon wie im Flug vergehen.
    Zaghaft hob er die Hände und berührte die Oberflächen der Tasten, schlug sie jedoch noch nicht an. Das schwarz-weiße Band, das sich rechts und links von ihm ausbreitete, kam ihm manchmal vor wie eine giftige Schlange, die er mit aller Kraft zu besänftigen versuchte, die ihn aber immer wieder rücksichtslos biss.
    Tick tick tick tick tick tick …
    Noch 38 Minuten. Vorsichtig drückte er mit den Fingerspitzen die Tasten herunter. Der Ton klang nicht schlecht. Max warf einen Blick auf das Notenpapier, das vor ihm auf der Ablage stand. Und wenn er einmal versuchte, sich von den Noten zu lösen? Vielleicht war ja das das Problem: Dass er nach Noten spielen sollte, die sich irgendein Komponist vor hunderten von Jahren ausgedacht hatte. Warum ließ er sich nicht einmal von der Musik führen, die er in sich selbst verspürte, anstatt zwanghaft einer Tonfolge gehorchen zu wollen, die sich ein anderer hatte einfallen lassen?
    Tick tick tick tick tick …
    Abgesehen vom Ticken der Eieruhr war es in dem Haus vollkommen still. Lisa malte in ihrem Zimmer wahrscheinlich ein Bild, die Mutter war noch unterwegs, Claire und Betty von der Oma abholen. Und der Vater? Hinten im Gartenhaus, wie immer.
    Max ließ die Hände eine Weile in der Luft tanzen. Es würde ihn niemand hören. Er gab sich einen Ruck - und seine Finger fielen schwer auf die Tasten. Sie riefen einen schönen, satten Klang hervor. Zufrieden mit diesem ersten Ergebnis zog er die Hände rechts und links auf der Tastatur auseinander. Eine perlende, lustige Tonfolge stieg auf. Max’ Laune besserte sich. Ging doch!
    Er ließ die Finger zurück zur Mitte der Tastatur wandern, diesmal die schwarzen Tasten mit einbeziehend, so dass der Klang ein wenig schräger ausfiel. Dann nahm er beide Hände zusammen und sprang mit ihnen nach rechts, jetzt weniger laufend als vielmehr hüpfend, so dass die Töne noch kraftvoller, fast schon zornig und aufgebracht wirkten.
    „Jetzt: Kontrast!“, murmelte er sich zu und wie auf Kommando schnellten die Hände weniger hoch, duckten sich vielmehr, huschten gemeinsam über die Tasten nach links, so dass der Klang leiser wurde, sanfter, behutsamer.
    Mit beiden Füßen trat Max die beiden Pedale nieder - die einzelnen Töne verschwammen.
    „Sehr gut! Jetzt die Variation.“
    Er achtete darauf, seine Hände unabhängig voneinander ihren jeweils eigenen Phantasien nachspüren zu lassen, die Rechte eher rhythmisch, die Linke melodisch. Und für einen Moment hatte er auch tatsächlich das Gefühl, seine Hände würden selbst am besten wissen, was sie zu tun hatten, ja, als könnte er sich geradezu innerlich zurücklehnen, um zu lauschen, was sie ihm vorspielten, als seien sie regelrecht von ihm abgelöst, angeschlossen an einen höheren, größeren Geist, der mit ihnen zu zaubern verstand und sie Wege gehen ließ, auf die er selbst, Max Bentheim, niemals gekommen wäre. Doch da verflog dieser Moment auch schon, während Max ihm noch nachlauschte, und an seine Stelle schob sich die Ahnung, dass niemand anders als er selbst, Max, derjenige war, der seinen Händen, seinen Fingern sagen musste, was sie tun sollten, dass niemand anders als er selbst, derjenige war, der eine Vorstellung davon haben musste, wohin die Reise gehen, wohin sich das Stück, das er spielte, entwickeln sollte. Eine Aufgabe, deren Komplexität Max verwirrte, kaum dass sie ihm ins Bewusstsein gerutscht war.
    Verbissen versuchte er, die Klarheit wiederzugewinnen, die er eben doch ganz deutlich in sich gespürt hatte, die er aus den Tönen, die er bereits hervorgerufen hatte, doch herausgehört und sich nicht

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