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Berlin liegt im Osten (German Edition)

Berlin liegt im Osten (German Edition)

Titel: Berlin liegt im Osten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nellja Veremej
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Pralinenschachtel, daneben eine weiße Küchenpapierrolle. Bettaccessoire der einsamen Männer. Herr Seitz ist bald achtzig, läuft es denn so lange mit dem Liebesleben bei den Alten? Als meine Oma in meinem heutigen Alter war, hielt ich sie schon für ein geschlechtsloses Wesen. Damals war ich fest davon überzeugt, dass körperliches Verlangen ein Privileg der Verliebten ist, der jungen Verliebten, nicht der alten. Peinliche Einsamkeit. Einsame Peinlichkeit. Neben der Rolle krümmen sich ekelerregende, wie abgetrennte Hautauswüchse wirkende Klümpchen – zwei gebrauchte rosafarbene Ohrstöpsel.
    Die Rückseite des Kühlschranks ist sehr warm, es ist ihm deutlich zu viel, heute oder morgen wird er abdanken. Seine Organe sind schwach geworden, ich wische die verstaubten Kiemen auf seinem Rücken ab, und seine Atmung wird leichter.
    Eine Stunde später stehe ich mit der Räder-Tasche im Korridor. Ich hasse solche Taschen, weil sie ein Inbegriff von Schwäche und Resignation sind. Mit einer solchen Tasche fühlt man sich wie an einer Karre angekettet. Mit dem Rucksack fühle ich mich viel jünger, Herr Seitz aber insistiert, dass ich mit DIESER Tasche seine Einkäufe mache. Kaufen Sie mir bitte ein paar Tannenzweige zu Weihnachten.
    Viele? Um die Blumen abzudecken?, frage ich und denke wieder an den verstorbenen Herrn Struck und seine erfrorenen Geranien. Und an mich, wie ich mit meinen verspäteten Gaben vor der versiegelten Tür stand.
    Nein, nur ein paar, statt einem Weihnachtsbaum.
    Vielleicht kaufe ich eine richtige Tanne, und wir verbringen Heiligen Abend zusammen?, sage ich selbst für mich unerwartet. Der alte Mann wirkt auch etwas verblüfft.
    Wir?
    Ja, sage ich entschlossen. Wenn Sie nichts dagegen haben. Meine Tochter ist Heiligabend nicht zu Hause. Ich könnte zu Ihnen kommen.
    Na sowas … Das freut mich aber sehr. Herr Seitz glättet mit unsicherer Hand sein schütteres graues Haar. Dann warten Sie, wir müssen überlegen, was wir alles noch kaufen sollen. Und ich komme mit!, sagt er und blickt verstohlen in den Spiegel.

6
    Wir sitzen am Tisch, Kopf neben Kopf, wie zwei Seiten eines Dachgiebels, und machen eine neue, feierliche Einkaufsliste. Plötzlich von weihnachtlicher Freude ergriffen, sind wir aufgeregt wie die Kinder. Ich verfehle mit dem linken Fuß die Stiefelöffnung, klammere mich an Herrn Seitz fest, und wir beide kippen lachend zur Wand. Dann versuche ich, dem alten Herrn in seinen Mantel zu helfen. Er lehnt meine Hand ab und hält mir galant die Jacke über die Schulter. Wir gehen zusammen einkaufen, er zieht die Einkaufstasche mit den Rädern, und ich hake mich bei meinem Begleiter ein – heute ist alles anders als sonst.
    Ich war nie bei einem richtigen deutschen Heiligabend dabei, abgesehen von den Weihnachtsveranstaltungen in Altersheimen. Zwar schmücke auch ich an diesem Tag einen Tannenbaum und brate eine polnische Ente, komme mir dabei aber etwas komisch vor, als ob ich schauspielern würde.
    In meiner Familie gab es nur Silvester.
    Aber es war fast das Gleiche, oder? Tannenbaum, Geschenke und so.
    Ja, fast das Gleiche, aber ohne Krippen, Engel und Enten. Zu Silvester essen alle bei uns Salat
Olivje
. Oft auch Hering unter einer Schicht aus Roter Beete, Kaviar und marokkanischen Orangen. Auch schön, aber halt anders.
    In der Tram ist es warm und eng, wir sind dicht aneinandergedrückt, Gesicht neben Gesicht. Durch die Stoffschichten spüre ich die Wärme des Körpers von Herrn Seitz. Als Herr Struck starb, so Maria, war sein Bauch noch über längere Zeit warm, auch wenn die Hände schon kalt wurden, so wie jetzt Herrn Seitz’ Finger, die ich zufällig in der Enge berühre. Wegen der ungewohnten Körpernähe verlegen, hält er seinen Atem zurück und wendet sein Gesicht von mir ab. Ich schaue zum Fenster in die andere Richtung, im Fenster spiegeln sich unsere Profile wie ein Januskopf.
    In den Menschenstrom eingeschlossen, tappen wir aus der Tram in die bunten Gänge des Weihnachtsmarktes. Unter dem Riesenkessel lodert Feuer, es riecht nach angebranntem Zucker und Fleisch. Wir drängen uns durch die engen Gassen des Basargewinkels. Links und rechts baumeln riesige, mit ätzenden und verlogenen Farben verzierte Lebkuchenherzen:
Ich bin froh, dass es dich gibt
und
Alles was ich brauch, bist du
oder
Ich will nur dich!
und
Trau dich!
Wenn der Windzug durch die engen Gassen huscht, klopfen die baumelnden Herzen leicht gegeneinander, das Geräusch, das dabei entsteht, ist dumpf und

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