Berlin liegt im Osten (German Edition)
trocken.
In einem improvisierten Stall an der Biegung der bunten Gasse steht ein Esel mit einem dunklen Fleck an der grauen Hüfte, dort, wo ihn die vorbeiziehenden Menschen mit ihren speckigen Händen streicheln. In einer Kaufhausvitrine veranstalten die Plüschtiere Berlinale, in einem anderen stürzen Affen die Mauer am Brandenburger Tor.
Und hier, Lena, schau mal hin!, zerrt mich Herr Seitz zum nächsten Fenster. Seine Aufregung, sein unabsichtliches
Du
und sein Wunsch, mich zu beeindrucken oder zum Lachen zu bringen, könnte mich an einen Zirkusbesuch mit meinem Vater erinnern – wenn wir denn je einen gemacht hätten.
Im Ort meiner Kindheit war nie ein Zirkus. Es gab auch keine Kirche und keinen Markt. Fleischkonserven, Kondensmilch, Kartoffeln, Nudeln und getrocknetes Obst bekamen wir einmal monatlich aus dem Lager; Beeren und Pilze kamen aus dem Wald, Fische aus dem Fluss, und gelegentlich kam ein Helikopter mit Leckereien angeflogen, den wir
Büffet
nannten.
Wenn die riesige Libelle über Kema in der Luft hing, schrien die Kinder in den Himmel und winkten.
Die Verkäuferin glättete ihr vom Wind zerzaustes Haar und setzte sich eine steife, weiße Mütze auf den Kopf. Dann zog sie die Waage aus dem Bauch der Maschine und schöpfte mit einer Schaufel Bonbons aus den Leinensäcken in die Pergamenttüten. Im Winter fielen Bonbons vom Himmel, im Sommer war es Obst. Ich schrie und warf mich auf den Boden, weil ich die große Wassermelone tragen wollte. Aber diese rutschte aus meiner Hand und zerschellte am Boden. Da stempelte Vaters Hand eine Ohrfeige auf meine Backe. Wassermelonen wurden nur einmal im Jahr geliefert, jede Familie bekam nur eine davon. Habe ich diese restriktiven Modalitäten später und nachträglich erfunden, um Vaters Hand zu rehabilitieren?
Ich nehme die Hand von Herrn Seitz in meine, damit wir uns hier, im Gedränge der Schlemmerparadiese nicht verlieren. Er trägt einen altmodischen Mantel und eine Pelzschapka mit ausklappbaren Ohrenschützern. Es ist sehr warm drinnen, mein Sputnik nimmt seine anachronistische, deplatzierte Kopfbedeckung ab und wischt sich die Stirn mit dem schneeweißen, von mir gebügelten Taschentuch.
Kiwano, Guave, Granadilla, Feijoa, Passionsfrucht, rote, schwarze und weiße Kartoffeln und deren, ebenso per Jet eingeflogene Verwandte Maniok
(eine tropische Nutzpflanze, Grundnahrung armer süd- und mittelamerikanischer Waldbewohner)
: Das Essen in diesem Paradies ist keine Nahrung, hier ist es Zerstreuung, Antidepressivum, Spielzeug. Was uns umgibt, lässt an eine mittelalterliche Tafel denken, wo im Laufe des Abends Dutzende Gäste
einen Bottich Eiermus mit Pfefferkorn, Safran, Hirse und Honig darein, ein Lamm mit Zwiebel und Gemüse, Brathähnchen mit Pflaumen, gedörrten Kabeljau mit Rosinen und Butter, knusprig gebratene Brachsen, gekochte Aale mit Pfeffer, gebratene Heringe mit Senf, Schlangeneier, gebackene Ranettäpfel, Drosseln, gebacken im Speck und mit Meerrettich serviert, und Ferkel mit Gurken
verzehrten, um dann sich an die Nachtigallenzungen zu machen – das erzählt mir mein belesener Begleiter, während wir uns durchs Nahrungsparadies arbeiten. Da es hier tropisch heiß ist, knöpft Herr Seitz seinen Lammfellmantel auf. Auf seiner Brust sträubt sich kriegerisch ein flauschiger Mohairschal.
Wir kaufen einen Karpfen, eine Flasche Krimsekt und eine winzige Dose Malossol-Kaviar. Die Blechdose ist klein wie eine Penatencreme-Dose und kostet 25 Euro. Herr Seitz geht davon aus, dass ich wie alle Russen Kaviar mag. Er schubst mich sanft von der Kasse weg und legt stolz 52 Euro und 17 Cent in bar hin.
Geld (ein für das Paradies eher irrelevanter Begriff) hatte kaum Umlauf in unserem damaligen Leben und konnte bis zum Sommerurlaub friedlich in den knorrigen Wattematratzen ruhen. Bei Auszahlung der Monatslöhne flog ein Helikopter in eine größere Siedlung. Viele wollten mit, um Einkäufe zu machen, und so wurden die Plätze verlost. Ich war gerade im Schulalter, als sieben Insassen und der Pilot, mein Vater, tödlich verunglückten. Die Maschine war die raue Küste entlang geflogen und gegen einen Felsen geprallt. Die Unglücksstelle ist dicht mit roten 10-Rubel-Scheinen bedeckt gewesen, und ein gut gefederter nagelneuer Kinderwagen rollte nach dem Absturz den Hügel hinunter, wie in einem Film. Die Toten wurden zum Abschied im Klub aufgebahrt. Auf drei Billardtischen standen sieben Särge. Der Sarg meines Vaters ruhte auf Hockern, die niedriger
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