Berlin liegt im Osten (German Edition)
waren als die Tische. Und trotzdem kann ich mich an das Gesicht des Toten nicht erinnern. Nur an den herben Duft des frisch zersägten Kiefernholzes, dessen Harztränen noch nicht ausgetrocknet waren. Auf den Felsen stellte man neun silbern glänzende Stelen, in deren runde Fensterchen Fotos der Verunglückten eingemauert waren. Schon nach dem ersten Regen wurde das schwarzweiße Bild meines Vaters trüb und unklar.
Unter den Fotos lagen Kränze aus bemalten Blechblumen. Der steile Berghang war mit wilden Hagebutten bewachsen. Die Früchte waren riesig, und das süße Fleisch konnte man wie Apfelfleisch drumherum abknabbern. Man durfte bloß nicht die mit haarigen Samen prall gefüllte Hülle in der Mitte durchbeißen: die fiesen allgegenwärtigen Härchen drangen in und durch die Kleider, und den Juckreiz konnte man nur im Waschtrog wieder loswerden. Die kräftigen Stacheln der Hagebutte waren scharf wie Säbel, und sie ließen in der Haut nicht nur Kratzer zurück, sondern richtige Schnittwunden. In diesem Sommer heilten sie nicht: Kaum hatte sich eine Wunde mit dunkler Kruste überzogen, kratzte ich sie wieder auf, bis Blut kam.
Der Verkäufer zwingt den stacheligen Tannenbaum in das Plastiknetz, und als wir, voll beladen, zurück nach Hause gehen, versucht Herr Seitz mir immer wieder die schwere Last abzunehmen, was ihm aber kaum gelingt, weil seine Kräfte gerade dazu reichen, ihn selbst im langsamen Schritt vorwärts zu bewegen. Wir laden unsere Einkäufe bei ihm zu Hause ab, und als wir uns im Flur bis zum nächsten Tag verabschieden, fällt plötzlich die grüne Kaufhaustüte mit dem Karpfen vom Schuhregal herunter, und sie zetert und bebt verzweifelt zu unseren Füßen.
Machen Sie was, man muss etwas machen! Ich reiße meine Hand aus seiner und stürze zur Eingangstür. Herr Seitz sammelt die Tüte auf und drückt sie fest an sich.
Er ist tot, es sind nur seine Muskeln! Machen Sie sich keine Sorgen, überlassen Sie es mir, gehen Sie nur!
Ich reiße die Tür auf, Herr Seitz bleibt im Korridor stehen – ein Terminator, ein Held, ein Mann mit einem großen Herzen, das, in der raschelnden Tüte gefangen, verzweifelt und laut pocht. Ich ziehe die Tür zu und sause die Treppe hinunter, schnell wie eine Lawine.
Mama! Was Augen hat, isst man nicht!, sagt Marina, als ich ihr die Geschichte vom springenden Karpfen erzähle.
Stimmt. Es war furchtbar, wie er zeterte, nicke ich und denke wieder an die Fotos, wo nackte Menschen mit Säcken auf den Köpfen verzweifelt und grotesk durch die Korridore eines Kerkers irgendwo zwischen Tigris und Euphrat manövrieren.
Ist es nass draußen?
Es ist nass und dunkel.
Sie knöpft ihre weiße zottige Kunstfelljacke zu.
Ich gehe.
Wann kommst du?
Wir wollen an einem Projekt arbeiten, vielleicht bis spät in die Nacht. Vielleicht komme ich auch nicht nach Hause.
Rufst du dann an?
Mama, mach etwas Schönes und warte nicht auf mich! Geh mal ins Kino, besuch deine Freunde. Ich glaube, du musst dein Leben ein bisschen ändern.
In meinem siebzehnten Lebensjahr fühlte ich mich meiner Mutter endgültig und verzweifelt überlegen. Meine Tochter hatte dieses Gefühl schon als Grundschulkind, wie es in vielen Migrantenfamilien der Fall ist, wo die Eltern in der Kommunikation mit der Umwelt oft auf die Hilfe ihrer Kinder angewiesen sind:
Liebe Frau Flügel, meine Tochter Marina hat heute Termin bei einem Arzt um 12 Uhr
. –
Einen
Termin,
den
Termin?, quälte ich mich über dem Papierblatt, während die kleine Marina neben mir stand und ihre Augen gen Himmel rollte: Einen Termin! Und hier schreibst du bitte etwa so:
Sie wird um 11 Uhr abgeholt und ich bitte dies zu entschuldigen
. Und Datum. Sie riss mir das Blatt aus der Hand, las es und schob es mir unter die Nase: Abgeholt – zusammengeschrieben!
Gehorsam zog ich eine dünne wackelige Brücke zwischen Ab und geholt. Gut gemacht!, sagte sie und streichelte meine Schulter. Sie war meinen Schwächen gegenüber immer nachsichtig, unsere Beziehung kollidierte schon damals mit dem üblichen gesellschaftlichen Axiom
Eltern haften für ihre Kinder
.
Mein Deutsch ist immer noch nicht fehlerfrei, aber fließend. Ich sage aber nie
Danke schön!
, sondern
Vielen Dank!
, weil ich die tückischen Umlaute nicht bewältigen kann, und das wohl auch nie können werde. Auch zu schimpfen und mich zu empören, will mir auf Deutsch nicht gelingen. Marina dagegen hantiert sehr souverän mit ihren beiden Muttersprachen und mit zwei Fremdsprachen.
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