Berlin liegt im Osten (German Edition)
Wir vermissen nicht das damalige Leben, sondern den Zeitgeist, mit dem man Adam Smith, den Wohlstand und den Komfort verachtete und auf eine vage und helle Zukunft schwor. Wir selbst spotten gerne über diesen naiven Glauben oder über die Realien des sozialistischen Lebens, ärgern uns aber, wenn die Leute aus dem Westen das tun. Für sie war das Leben hinter dem eisernen Vorhang entweder verbrecherisch, miserabel oder anekdotisch ulkig. Für uns ist es im Rückblick auch so, aber es war unser Leben, und nicht ihres.
In der horizontalen Metallklinke des Kühlschranks ZIL MOSKWA gibt es ein winziges Schloss: War das Essen sehr wertvoll damals, oder waren die Kinder zu frech und zu hungrig? Oder war die prachtvolle Maschine für kommunale Küchen konzipiert? Meine Oma hat die beiden mikroskopisch kleinen Schlüsselchen gleich verloren, Herr Seitz besitzt sie immer noch, ein verliebtes Pärchen, in einem winzigen Ring liiert. Ich wische die gewölbte Kühlschranktür, schrubbe an den Seitenwänden und schiebe das alte Monster heraus.
Herr Seitz, wo ist die Küchenpapierrolle? Lag die nicht hier?
Ich bringe sie Ihnen, kleinen Moment!
Bleiben Sie sitzen, ich bin schneller!, rufe ich und hole den langsamen Herrn Seitz auf der Schwelle seines Schlafzimmers ein.
Das große Bett unter der cremeweißen glatten Decke ist majestätisch und monströs, wie ein königlicher Sarkophag, seitlich stehen, wie leere Denkmalsockel, zwei kleine Nachttische. Bewohnt ist im Bett nur eine Seite, die von der Türe weiter entfernte, beim Fenster. Auf dem Nachttisch liegen eine Lesebrille und ‚Berlin Alexanderplatz‘, ein dickes, zerzaustes Buch. Berührt man es, fliegen seine vergilbten Seiten wie trockenes Laub in alle Himmelsrichtungen. Herr Seitz aber setzt sie wieder zusammen, seine Finger sind dabei schnell und sicher, wie die eines Blinden, der Kartonstücke tausendmal am Tag zur immer gleichen Box zusammenfaltet. Herr Seitz liest viel und leidenschaftlich, in diesem Buch liest er aber besonders gerne, weil der Papierziegel das Universum in sich birgt, in das auch der kleine Ulf dann hineingeboren werden wird.
Aus ebendiesem Grund liebe ich die Filme innig, die Mitte der sechziger Jahre gedreht wurden. Darin, so scheint es mir jedenfalls, erkenne ich die Frisur meiner Mutter oder den Mantel meines Vaters. Ich war noch nicht da, meine Welt aber schon. Sprudelwasser-Automaten (ohne Sirup eine Kopeke, mit Sirup drei). Breite, frisch gewässerte Straßen und Prospekte. Die Busse mit rundlichen und dicken Elefantenrücken – alles ist schon da, sogar meine Eltern bewegen sich irgendwo in dieser Welt schon aufeinander zu. Das toupierte Haar meiner Mutter wird von einem breiten, gestreiften Band über der Stirn gehalten, ihr Kleid ist elegant und schlicht, wie das Etui eines Regenschirms. Mein Vater trägt sein Sakko am Zeigefinger, es hängt ihm über die Schulter. Oben ragen Baukräne in den Himmel, unten schlagen weiche Setzlinge ihre Wurzeln in die junge Erde – die Dinge, die das Paar umgeben, sind beseelt und wertvoll. Alles ist bereit, bald ist mein Auftritt.
Das ist, natürlich, eine fiktive, nur für mich geltende Vision, der Vater von Herrn Seitz aber, Konrad Seitz, ist tatsächlich in ein Kunstwerk geraten, eben in das Buch ‚Berlin Alexanderplatz‘ – als jener Mann, der mitten auf dem Rosenthaler Platz mit zwei gelben Paketen von der Linie 41 abspringt: …
eine leere Autodroschke rutscht noch grade an ihm vorbei, der Schupo sieht ihm nach, ein Straßenbahnkontrolleur taucht auf, Schupo und Kontrolleur geben sich die Hand: Der hat aber mal Schwein gehabt mit seine Pakete
.
Als Konrad Seitz das Buch las, erkannte er sich in der Figur wegen der zwei gelben Pakete wieder, mit denen er tatsächlich einmal von der 41 abgesprungen und beinahe unter eine Droschke geraten war. Der Vorfall hatte sich sieben Jahre vor Ulfs Geburt ereignet. Als Kleinkind wurde ihm die Geschichte oft erzählt, ihm wurde sogar die Stelle an der grauen Jacke des Vaters gezeigt, wo die Droschkenräder die zwei Knöpfe abgerissen haben. An den beiden geflickten Stellen wuchsen später champignonähnliche neue Metallknöpfe.
Als ich ‚Berlin Alexanderplatz‘ las, dachte ich, dass Franz Biberkopf in seinen hohen Jahren genauso wie der Schlosser Struck gewesen sein muss, und diese Vorstellung machte meine Stunden bei diesem um vieles erträglicher und veredelte mir seine Erscheinung.
Neben dem Buch auf dem Nachttischchen liegt eine
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