Berlin liegt im Osten (German Edition)
In ihrer Klasse ist sie sehr beliebt, hat für Weihnachten eine Verabredung, und sie freut sich, dass ich zum Heiligabend eingeladen bin. Sie will mich loswerden, denn wenn sie weggeht, tue ich ihr leid. Sie meint, ich bin deshalb allein, weil ich nicht selbstsicher genug bin. Zu träge. Zu ordinär?
Sie ist ein zielstrebiges Mädchen. Sie will Filmemacherin werden, irgendwann wird sie es sein, das traue ich ihr zu.
Ich bin stolz auf sie. Der Sohn meiner Chefin sitzt an der Kassa des
Netto
-Marktes, und meine Tochter ist im Gymnasium. Sie engagiert sich für den Umweltschutz und jobbt fleißig, weil sie ihr nächstes Schuljahr in Amerika verbringen will. Es wird sicher klappen, und ich werde hier, im Osten, bleiben und um den Fernsehturm große und kleine Runden machen, wie ein blinder Esel, der die Mühlsteine ankurbelt.
Gut siehst du aus!, sage ich zu meiner Tochter, als ich die Tür hinter ihr zuziehe.
Ihr schweres, kinnlanges Haar trägt sie momentan mit kecken Spitzen nach vorne, ein glatter Pony über den Augenbrauen, die dunklen Augen meiner Oma, warm schimmernd wie überreife Kirschen – sie ist entzückend, meine Tochter Marina.
An Heiligabend ziehe ich einen alten Glockenrock an und dazu hohe weinrote Schuhe. Meine Beine haben die dazu passenden Schritte (die einer aufrecht gehenden Ziege) verlernt, es fühlt sich merkwürdig an. Das Knirschen der Streukiesel auf dem Gehweg hallt in der feuchten Luft. Der nasse Asphalt scheint klebrig zu sein. Schon wieder ein schneeloser Winter – verdammter Klimawandel!
Herr Seitz ist heute auch sehr schick: Weißes Hemd, glatt rasierte Wangen, eine Fliege unter dem morschen Hals. Wir machen heute das Weihnachtsgericht der Mutter von Herrn Seitz –
Betrunkener Karpfen
. Man mischt Reis mit gedünsteten Zwiebeln, übergießt das Ganze mit einer Mixtur aus Weißwein, Öl und Wasser, würzt mit süßem Paprika und legt einen ausgenommenen gewürzten Karpfen drauf. Dann ab damit in den Ofen.
Ulfs Großeltern mütterlicherseits sind aus Neusatz nach Berlin gekommen, aus einer netten Stadt am südlichen Rand der Donaumonarchie. Die Mutter war als Kind zu Besuch bei Verwandten da, und der betrunkene Karpfen blieb für sie eine Erinnerung an das weite Goldene Zeitalter, das es irgendwo hinter den Sieben Bergen einmal gegeben haben muss.
Das habe ich seit Ewigkeiten nicht mehr gemacht, sagt Herr Seitz, und wir schieben die Kasserolle in den Ofen.
Man macht es immer für mehrere Menschen, ich bin aber seit fast zwanzig Jahren hier allein.
Den Weihnachtsschmuck, in einer alten Holzkiste aufbewahrt, kennt Herr Seitz seit seiner Kindheit. Es sind Kugeln, Eiszapfen aus Glas, eine Porzellanglocke, abgewetzte Paradiesvögel mit echten Federn, verwitterte Engel aus Holz und auch einige invalide Schneeflocken, aus Stroh gemacht. Wie durch ein Wunder sind all diese zarten Dinge den ganzen Krieg über Krieg unversehrt geblieben, und auch danach haben sie die Zeiten überstanden. Auch die Möbel hier haben überlebt.
Wird man angesichts all der Relikte aus vergangenen Tagen in eine permanente Erinnerung verwickelt? Ich zeige auf die alte Anrichte, den runden Tisch, die Stühle mit den hohen Lehnen, den dunkelroten Schrank, der protzig und geräumig ist wie eine Gruft.
Nein. Sie altern so mit mir dahin. So wie auch wir Menschen können sie nicht an alles erinnern. Herr Seitz fängt meinen Blick auf und schaut ebenfalls zum trüben Schrankspiegel, der uns beide zeigt, wie wir friedlich und geschäftig den antiken Schmuck auf dem Tisch ausbreiten.
Aber wo Sie mich jetzt fragen, da erinnere ich mich sofort, dass ich als Kleinkind oft in dem großen Schrank gespielt habe. Ich fühlte mich da geborgen und sicher, einmal bin ich darin sogar eingeschlafen, und die Eltern haben verzweifelt nach mir gesucht. Ich bekam dann Ärger, war aber sehr glücklich, als ich hörte, wie furchtbar sie mich vermisst hatten. Diese Spiele haben dann aufgehört, als ein Freund meiner Eltern sich in dem Schrank versteckt hat …
Warum?
Wenn es Sie nicht langweilt, kann ich es Ihnen erzählen.
Sprechen Sie nur!
Es war an dem Tag, als der fünfjährige Ulf zum ersten Mal das Kino besuchte. Der Vater brachte ihn ins
Babylon
-Kino, er versprach, ihn nach der Vorstellung abzuholen, und ging selbst wieder nach Hause. Eine große Frau mit einer weißen Schürze schloss Ulfs Finger in ihre feuchte Hand und führte ihn durch die sanft geneigte, mit Plüsch eingefasste Dunkelheit. Die Taschenlampe in ihrer
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