Berlin Wolfsburg (German Edition)
von
Scheidners Frau noch nicht allzu lange zurück. Außerdem hatte sie sich in einen
ziemlich großen Fettnapf gesetzt – in den größten, der gerade in Reichweite
gewesen war. Aber das war nichts Neues.
Eine halbe Stunde später erfuhr sie von Antonia Gerlach, genannt
Tony, die im Innendienst für Recherchen zuständig war und so schnell, umfassend
und, wenn es nötig sein sollte, auch spurlos wie keine zweite beim BKA Informationen zu Gott und der Welt beschaffen
konnte, dass Scheidners Frau im Mai letzten Jahres gestorben war.
»Ziemlich üble Geschichte«, erläuterte Tony. »Sahra ist vergewaltigt
worden und hat sich einige Wochen später das Leben genommen. Sie war Ende
dreißig und schwanger. Hast du das damals nicht mitbekommen?«
Johanna stöhnte leise auf. »Um Gottes willen … Nein, ich kann mich
nicht daran erinnern. Vielleicht war ich gerade mal wieder nicht in Berlin.«
Oder ich habe es vorgezogen, mich nicht mit einem weiteren bösen Verbrechen zu
beschäftigen, noch dazu aus dem erweiterten Kollegenkreis.
»Sie hat, wenn ich mich recht erinnere, an der Volkshochschule
unterrichtet: Arabische Literatur und Religionsgeschichte.«
Vielleicht hatten sich Rauths und Scheidners Ehefrauen in diesem
Zusammenhang kennengelernt, überlegte Johanna. »Ist der Vergewaltiger gefasst
worden?«
»Nein. Es waren übrigens mehrere. Sahra Scheidner konnte keine
eindeutigen Angaben machen, sodass die Ermittlungen eingestellt werden
mussten.«
»Oh Scheiße.«
»Du sagst es. Kann ich sonst noch was für dich tun?«
»Im Moment nicht, aber du hörst ganz sicher von mir. Ich fahre
morgen nach Wolfsburg und benötige garantiert deine Unterstützung.«
»Nette Gegend«, kommentierte Tony. »Viel Spaß.«
2
Jürgen Reinders, inzwischen zum stellvertretenden Leiter
der Polizeiinspektion in Wolfsburg aufgestiegen, empfing sie am nächsten
Vormittag in seinem Büro. Sein Lächeln war genau mit der Mischung aus
Höflichkeit, Neugier und Skepsis durchsetzt, die Johanna erwartet hatte. Sie
ließ ihm fünf Minuten, um sich leutselig nach ihrer Anreise zu erkundigen und
von seinem Urlaub in Kroatien zu erzählen, wo glücklicherweise, wie er
schwärmte, wundervolles Sommerwetter geherrscht hatte. Mit derlei Ausführungen
konnte man sich in diesem Sommer bei so manch Daheimgebliebenem richtig unbeliebt
machen.
Als die üblichen Allgemeinplätze folgten, bat sie ihn um einen
Kaffee und fragte, wie es Colin Sander ging, dem jungen Kommissar, der sie im
letzten Jahr in Königslutter unterstützt und den sie im Stillen Johnny Depp
getauft hatte, weil er stets ein Kopftuch à la Captain Jack Sparrow um seinen
Kopf geschlungen hatte und außerdem ähnlich verwegen aussah, wie Johanna sich
vergnügt erinnerte.
Als sie Colin das erste Mal zu Gesicht bekommen hatte, war sie
felsenfest davon überzeugt gewesen, dass Reinders ihr eins auswischen wollte,
indem er ihr einen pubertären, selbstgefälligen Jüngling zur Seite stellte, der
zu viel Navy CIS gesehen hatte. Aber Sander war
nicht nur frech und unkonventionell gewesen, sondern auch ziemlich pfiffig. Und
es war ihm bemerkenswert schnell gelungen, Johanna aus der Reserve zu locken.
Das konnten nicht viele von sich behaupten. Sie spendierte Reinders ein kleines
Lächeln.
»Sander nimmt gerade an einer Fortbildung beim LKA in Hannover teil«, erklärte Reinders, während er
aufstand und eine Kaffeemaschine in Gang setzte, die auf einer Anrichte hinter
seinem Schreibtisch thronte – eins von diesen angesagten und hyperschicken
Geräten, das in keinem modernen Haushalt oder Büro fehlen durfte.
Wahrscheinlich beherrscht sie auf Zuruf zwölf verschiedene Kaffeevarianten,
mutmaßte Johanna, die sich zu Hause ihren Kaffee noch von Hand aufgoss, wie
ihre Mutter.
»Macht sich gut, der junge Mann«, ergänzte Reinders.
»Kann ich mir denken.«
»Espresso? Latte macchiato? Oder vielleicht –«
»Einfach nur schwarzen Kaffee … und ein paar Kekse, wenn Sie schon
so nett fragen.«
»Sie sind also immer noch auf dem Süßigkeitentrip?«
»Ja. Andere Schwächen gönne ich mir nicht.« Johanna grinste, als
Reinders ein etwas angestrengtes Lächeln zeigte.
»Na ja, Sie können es vertragen.«
Johanna war nach wie vor knochig und hager wie alle Frauen der
Krass-Familie. Aber selbst wenn ihr Hang zu Süßigkeiten sich inzwischen an den
Hüften bemerkbar gemacht hätte, wäre sie kaum bereit gewesen, darauf zu
verzichten. Warum und für wen auch?
Reinders wartete, bis das
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