Berndorf, Jacques (Hrsg)
bevor er den Brief hatte abschicken können, bekam er erneut Besuch. Der Mann, der im Türrahmen seiner Wohnung auftauchte, als er sich gerade mit dem Müllbeutel in der Hand auf dem Weg zur Tonne im Hof hatte aufmachen wollen, war weniger freundlich als die Damen und roch auch nicht so gut. In seinen Händen hielt er auch keinen Champagner, sondern eine Pistole. Und eben diese schlug ihm sein Besucher im nächsten Augenblick wortlos und ohne Vorankündigung ins Gesicht.
Wenig später fand sich Paul mit Kabelbindern an seinen Esszimmerstuhl gefesselt wieder.
»Wo ist der Schotter?«, fragte der bullige Kerl mit heiserer Stimme und bedachte Paul mit einem Blick, der so kalt war, dass er damit das Thermometer zum Fallen hätte bringen können. »Weißt du, Junge, das ist so eine Frage, die ich nur ein einziges Mal stelle. Dein Auto ist gesehen worden. Da, wo Benno den Unfall gebaut hat, wo ich aus dem Auto geflogen bin. Ich will keine blöden Ausflüchte und keine Lügen hören. Ich will meine Kohle und habe keine Angst, dir mit dem Ding hier ein drittes Nasenloch zu schießen.«
Er wedelte mit der Pistole und entkorkte gleichzeitig mit den Zähnen eine Flasche, die auf dem Sideboard gestanden hatte. Paul, dem immer noch der Kiefer schmerzte, brachte zunächst nur ein paar krächzende Laute heraus.
Der Fremde trank und verzog angeekelt den Mund. »Wassn das?«
»Brennnessellikör«, krächzte Paul. »Welches Geld?«
Der Fremde antwortete mit einem neuen Schlag und erinnerte Paul an die Spielregeln.
Dann schlenderte er durch die Wohnung. »Ärmliche Bude. Bist’n Schlauer. Hast das Geld gebunkert, bis kein Hahn mehr danach kräht …«
Paul dachte in diesem Moment daran, dass dann, wenn keine Hähne mehr krähen würden, seine Tanten längst das Geld bis auf den letzten Heller verjubelt haben würden.
»Nu mach schon, du Heini. Wer war mit dir im Auto? Ihr wart zu dritt.«
In diesem Moment sah Paul ungewollt und unkontrolliert zu dem gerahmten Foto auf dem Fernseher hinüber, auf dem Tante Traudel und Tante Franzi fröhlich und faltenreich in die Kamera lächelten. Der Fremde registrierte den Blick sofort, und seine Mundwinkel kräuselten sich augenblicklich nach oben. Und als er im nächsten Moment den Briefumschlag fand, der an die beiden Tanten adressiert war, zeigte er sogar seine Zähne.
Nachdem er gegangen war, versuchte Paul, mit dem Stuhl zum Telefon zu hüpfen. Er schaffte es bis zur Teppichkante, geriet ins Straucheln und kippte nach vorne, wobei er mit der Nase ungebremst auf die Kante des Sideboards krachte. Und dann wurde es ihm erneut schwarz vor den Augen.
Paul kam zu spät. Mehrere Stunden zu spät. Im Treppenhaus des bonbonfarbenen Hauses in Gemünd erwartete ihn eine völlig aufgelöste Tante Traudel, die soeben den Hausarzt verabschiedete, dessen Cabrio Paul auf dem Parkplatz gesehen hatte.
»Er hat einen Herzinfarkt diagnostiziert.«, murmelte sie. »Die arme Franzi. Dieser brutale Mensch hat sie so verängstigt.«
»Wo ist er hin?«, fragte Paul angstvoll.
»Ich habe ihm das restliche Geld gegeben, und nun ist er hoffentlich für immer verschwunden. Was ist denn mit deiner Nase?«
Paul winkte seufzend ab und machte dem Bestatter Platz, der gerade mit seinen zwei Mitarbeitern aus dem neuen Lift trat. Hatte der nicht früher eine Glatze gehabt? Der Mann nickte grinsend, wohl ahnend, was in Pauls Kopf vorging. »Echthaar. Eingepflanzt. Sündhaft teuer. Sieht man gar nicht, oder?« Die beiden Arbeiter kämpften sich unterdessen mit dem Zinksarg durch die Wohnungstür. Der Bestatter zeigte Paul zwei Narben am Kinn. »Und hier … bisschen straff gezogen. Und hier … Fett weg. Abgesaugt.« Er klopfte sich auf den Bauch und machte ein schlürfendes Geräusch. Dann legte er Paul vertraulich den Arm um die Schulter. »Jetzt gehen Sie mal schön nach Hause. Wir machen das hier schon. Ihre Tanten haben schon frühzeitig an alles gedacht. Alles bestens vorbereitet.«
Paul wollte noch protestieren, versuchte noch, an dem Bestatter vorbei in die Wohnung zu spähen und konnte undeutlich erkennen, wie Tante Traudel mit einer von Tante Franzis geliebten Likörflaschen im Gäste-WC verschwand. Es roch nach Pilzen. Bevor ihm die Tür vor der Nase verschlossen wurde, hörte er im Hintergrund noch das Rauschen der Spülung.
Tante Franzi wurde ungewöhnlich eilig und ungewöhnlich heimlich auf dem Gemünder Friedhof beigesetzt. Der Bestatter erledigte die Zeremonie unspektakulär aber sorgfältig.
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