Bernstein Verschwörung
dreinblickender Fahrer nickte ihm zu, dann
öffneten sich mit einem Rattern die vier Türenpaare der
Bahn, und der Zug spuckte Fahrgäste aus.
Unbewegte Mienen,
hektische Gesten. Hier hatte niemand seinen Mitmenschen etwas
mitzuteilen. Die Stadt war so verdammt anonym und kalt geworden.
Das war nicht mehr seine Welt. Mit versteinerter Miene bestieg
Mehrmann die am Gerüst pendelnde Bahn und ließ sich auf
einem der freien Kunststoffschalensitze am Fenster sinken. Die
Türen des Waggons schlossen sich, und die Bahn setzte sich in
Bewegung. Die vier Antriebseinheiten summten, dann lag die Wupper
unter dem Zug, und er konnte rechts in die eine oder andere alte
Fabrik, die sich vor mehr als hundert Jahren am Flussufer
angesiedelt hatte, blicken. Teils staubblinde, teils mit Farbe
übermalte Fensterscheiben, die sich durch eiserne Sprossen in
viele kleine, gläserne Felder unterteilten. Am Wupperufer
grüne Auen, die Mauern, die zum Ufer führten, waren
teilweise von den Kreativen der Stadt bemalt worden. Das war das
Wuppertal, das er liebte, dachte er und lehnte sich im Sitz
zurück. Er schloss die Augen und versuchte sich auf das zu
konzentrieren, was vor ihm
lag.
Mehrmann war Rapper.
Man sah es dem jungen Mann nicht auf den ersten Blick an, doch er
liebte den rhythmischen Sprechgesang, in dem er seine Gedanken und
Gefühle auszudrücken vermochte. Lange Zeit hatte er
Lieder über Wuppertal getextet, hatte sich mit der selten
gewordenen Liebe zur Heimatstadt auseinandergesetzt. Doch in
letzter Zeit, das spürte er, ging in Wuppertal mehr und mehr
schief. Die bergische Metropole war hoch verschuldet, und wenn es
der städtischen Politik nicht gelang, sich an den eigenen
Haaren aus dem Sumpf zu ziehen, würde die Stadt bald sterben.
Hilfe von der Landesregierung erwartete im Rathaus niemand mehr.
Das sprach zwar kein Politiker offen aus, aber längst schon
hatte man sich seinem Schicksal, eine insolvente Stadt zu regieren,
gefügt. Alle Versprechen, bei der Regierung in Düsseldorf
um Unterstützung zu kämpfen, waren nichts als
Wahlkampfgerede.
Vor einiger Zeit hatte
Mehrmann sogar einen Song gemacht, der sich mit dem Verfall der
Stadt auseinandersetzte. Darin hatte er auch das Verhalten des
Oberbürgermeisters angeprangert, der Mehrmanns Meinung nach
schon längst die Notbremse hätte ziehen müssen.
Johannes Alt hatte sich von Mehrmann persönlich angegriffen
gefühlt, hatte gegenüber einer Zeitung
geäußert, dass er auf diesem Niveau keine Stellungnahme
zu dem Lied abgeben wollte. Auch wenn seine Politik nicht
jedermanns Geschmack war, so sah sich Johannes Alt selber als Opfer
und prangerte das Verhalten der Landesregierung an. Alts Ansehen in
der Öffentlichkeit war in den letzten Wochen tief gesunken,
das ließ sich nicht von der Hand weisen. Seine Laune besserte
sich nicht gerade, als er an die Situation der Stadt dachte, in der
er sich einmal heimisch gefühlt hatte. Wahrscheinlich
würde er, nachdem er das Abi in der Tasche hatte, die Stadt
ein für allemal verlassen, so wie es schon zahlreiche
Wuppertaler vor ihm getan hatten.
Mehrmann hielt in
dieser Stadt nichts mehr - er würde studieren, in Köln,
vielleicht auch in Dortmund. Der Journalismus hatte es ihm angetan.
Mehrmann war ein sehr aufmerksamer und neugieriger Mensch. Er
betrachtete die Dinge immer kritisch, aber nie negativ. Ja, er
würde Journalist werden. Eines Tages ganz bestimmt. Vielleicht
eine Familie gründen, Kinder haben. Aber nicht in
Wuppertal.
Da draußen flog
eine trübe Welt an ihm vorüber. Er blickte sich in der
Bahn um. Teilnahmslose Gesichter, durch die beschlagenen Scheiben
nach draußen ins Nichts starrend. Hier und da blätterte
jemand in einer Zeitung. Immer wieder wurden die Fahrgäste
aufgeschreckt durch die Lautsprecheransagen, die die nächste
Station ankündigten. Wartegesichter, so nannte er
das.
Man traf sie in den
Wartezimmern von Ärzten, in den engen Kabinen
öffentlicher Aufzüge, an Haltestellen und in Bussen und
Bahnen. Unverbindliche Mienen, den Blick in die Ferne gerichtet,
leere Augen.
So konzentrierte er
sich auf die Dinge, die ihn augenblicklich nach vorn brachten. Wie
der Job als Schuhverkäufer, der ihm mehr schlecht als recht
den Lebensunterhalt sicherte. Wie das Abitur, das ihm die
Türen für das Studium öffnen sollte. Oder wie die
Rap-Musik, die er über alles liebte. Ab und zu verdiente er
mit den anderen Jungs sogar mal ein Taschengeld. Aber das Geld
wurde meist am
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