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Das Perseus-Protokoll - Hensel, K: Perseus-Protokoll

Das Perseus-Protokoll - Hensel, K: Perseus-Protokoll

Titel: Das Perseus-Protokoll - Hensel, K: Perseus-Protokoll Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Hensel
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    »Wie weit noch?«
    »Nicht mehr weit. Schlaf.«
    Er drückte den Kopf der Schwester unter seine Jacke, fuhr mit klammen Fingern durch ihr nasses Haar. Ihm war übel. Von den Wellen, die über das Boot schlugen und alles nass spritzen, die Menschen, die Koffer und Plastiktüten. Von den Benzinschwaden des alten Außenbordmotors, dessen Schraube immer wieder in der Luft drehte, wenn eine Welle das Heck hob. Ihm war übel vom Erbrochenen seiner kleinen Schwester, deren magerer Körper zitterte und sich heiß und klebrig an seine Brust drückte. Aber er musste sich zusammenreißen. Vater saß weiter hinten, neben dem Steuermann. Mama lag zu ihren Füßen, unter Decken und einem Regenmantel. Ihr dicker Bauch hob und senkte sich. Eine alte Frau fühlte ihre Stirn, gab ihr aus einer Plastikflasche zu trinken, aber immer nur ein paar Tropfen – die Flasche war fast leer.
    »Siehst du da vorn?«, rief ihm sein Vater zu. »Die Lichter! Sie werden immer größer!«
    Das Boot krachte in ein Wellental, Gischt spritzte über die Bordwand. Seine Jacke war zwar schon durchnässt, aber fühlte sich nach jedem Wasserschwall noch kälter an. Er presste seine Schwester an sich. Um ihr Schutz zu geben, aber auch – und dafür schämte er sich ein bisschen – um sich an ihrem fieberheißen Körper zu wärmen.
    »Nur noch eine Stunde«, flüsterte er in ihr Ohr. »Vielleicht nur eine halbe.«
    Das hatte sein Vater vorhin schon gerufen, da konnten sie am Himmel noch Sterne und die Mondsichel sehen. Jetzt war der Himmel schwarz, genauso schwarz wie das Wasser, und im Boot durfte kein Licht brennen. Er sah bloß die Lichter voraus, fern, aber verheißungsvoll wie ein Baum voller Kerzen. Wenn Wasser in seine Augen spritzte und er sie zusammenkniff, leuchteten die Lichter golden, rot und blau, in allen Farben des Regenbogens. Ein neues Leben hatte ihnen Vater versprochen. In einem richtigen Haus würden sie wohnen, mit Betten, Lichtschaltern und einem Wasserhahn. In Griechenland, hatte Vater gesagt, gibt es Frieden, Demokratie und Arbeit, ein Land voller Christen, wie sie! Sonntags läuten die Kirchenglocken, es gibt keine Armut und keine Angst. Griechenland! Einen Arzt für die Mutter, eine Schule für die Tochter und den Sohn!
    Er kniff die Augen fester zusammen, sah die Lichter am Horizont blinken und tanzen, sah sie näher kommen, schnell, plötzlich hörte er das Dröhnen eines Motors. Er riss die Augen auf: Ein Schiff kam auf sie zu, von vorn, mit hoher Bugwelle, drehte sich zur Seite, versperrte ihnen den Weg. Der Lichtkegel eines Scheinwerfers blendete ihn und alle Menschen im Boot. An der Reling standen Männer in Uniform, mit Waffen, die sie auf das Boot gerichtet hielten. Er hörte Rufe durch einen Lautsprecher, in einer Sprache, die er nicht verstand. Vater stand auf, rief etwas zurück, er konnte Griechisch, aber nur ein paar Worte. Jetzt kam wieder die strenge Stimme aus dem Lautsprecher. Vater zeigte auf Mutter, machte mit seinen Händen einen dicken Bauch. Die Soldaten an der Reling redeten nicht, lächelten nicht, hielten bloß ihre Waffen auf das Boot gerichtet. Wieder die Stimme aus dem Lautsprecher, Vater übersetzte:
    »Wir sollen umdrehen.«
    Unruhe im Boot, Angst auf den Gesichtern. Zurückkehren? In die Türkei, nach Fethiye? Der Steuermann hob den Kanister mit dem Treibstoff hoch, schüttelte ihn, zeigte, wie leicht er war. Vater rief, doch auf dem grauen Schiff antwortete niemand. Er rief noch einmal, schrie, die Hände um den Mund wie ein Trichter. Keine Antwort von den Soldaten, keine Antwort aus dem Lautsprecher. Stattdessen kam das Schiff auf sie zu, langsam, drohend wie ein bissiges Tier.
    »Jeder an seinen Platz!«
    Er drehte den Außenborder auf, das Boot legte sich schief, Gischt spritzte. Lauernd blieb das graue Schiff zurück. Zwanzig Männer und Frauen in einem offenen Fischerboot. Die Männer, bärtig, mit grimmigen Gesichtern, redeten auf Vater und den Steuermann ein, in einem Arabisch, das hart klang, sogar gefährlich. Ein Somalier machte dem Steuermann Vorwürfe wegen des leeren Benzinkanisters, der Steuermann rief erregt, das Boot habe in den hohen Wellen viel mehr Treibstoff gebraucht als sonst. Jedenfalls würden sie es nicht schaffen, zurück in die Türkei, unmöglich. Der Steuermann schaltete den Motor herunter, sie brauchten jetzt jeden Tropfen. Sie sahen dem grauen Schiff nach, dessen Lichter immer kleiner wurden, bis sie kaum noch zu unterscheiden waren von den Lichtern der Insel. Die

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