Bernsteinaugen und Zinnsoldaten
ich hinter mir gelassen. Wie auch Ahtseet … sie ist nicht von meinem Fleisch und Blut. Verräter! Verräter!“ Die Worte zischten wie das ausgehende Lagerfeuer. Sie war aufgestanden und hatte sich wütend von dem Dämon abgewandt, um neue Äste in die glimmende Schwefelasche zu legen. Y’lirr, ihr Stellvertreter, hatte ihr aus seinem Schlafsack zugelächelt und ihr gesagt, sie solle schlafen. Doch sie hatte ihn ignoriert und war zu ihrem Verbündeten auf den Hügel zurückgekehrt.
Obwohl die Nacht kalt genug war, die langsam tauenden Zweige der Safilil bäume wieder zu kristallisieren, lag das Äquinoktium weit zurück, und nun kündeten die feinen Nebel polymeren Regens golden und verheißend von herrlichen Sommertagen. T’uupieh hatte sich enger in ihren Mantel gekuschelt und eine Kapuze übergezogen, um zu verhindern, daß der klebrige Nebel ihre Schwingen und Ohrmembranen überzog, und sie hatte sich an den letzten Sommer erinnert, ihren ersten Sommer, den sie nie mehr vergessen würde … Ahtseet war zu Beginn dieses Sommers ein unbeholfenes, ungeschicktes Kind gewesen, und das Kind T’uupieh hatte die neue Schwester für unnütz und dumm gehalten. Doch der Sommer hatte das Land langsam verändert und ihre staunenden Augen mit Wundern erfüllt, und auch ihre Schwester hatte sich verändert, sie war zu einer leichtfüßigen, unbeschwerten Spielkameradin geworden, die sie an ihren Streichen und Abenteuern hatte teilhaben lassen. Gemeinsam hatten sie gelernt, ihre Schwingen zu gebrauchen und sich die warmen Aufwinde zunutze zu machen, um die Vorzüge und Freiheiten ihres Erbes kennenzulernen.
Und nun, da der Frühling wieder im Begriff stand, sich zum Sommer zu wandeln, klammerte sich T’uupieh mit aller Gewalt an die Vision, die sie nicht verlieren wollte. Ebensowenig wollte sie sich daran erinnern, daß dieser süße, unvernünftige Sommer der Kindheit nie mehr wiederkehren würde, auch wenn sich die Jahreszeit wieder näherte, denn das Rad der Veränderung drehte sich weiter und weiter und ließ sich nicht zurückdrehen … am Ende des Sommers war sie zur Erwachsenen geworden, und nun würde sie sich nie mehr mit der Unbeschwertheit der Jugend in die Lüfte erheben können. Und auch Ahtseet würde es nie mehr tun. Die kleine Ahtseet, die ihr immer gefolgt war wie ihr eigener Schatten. Nein! Sie würde es nicht bedauern! Sie würde glücklich sein …
„Hast du noch nie darüber nachgedacht, T’uupieh“, sagte der Dämon plötzlich, „daß es falsch ist, jemanden zu töten? Du willst nicht sterben, und so will keiner vor seiner Zeit gehen. Warum sollten sie auch? Hast du je darüber nachgedacht, wie es sein könnte, die Welt zu verändern, damit jeder so behandelt wird, wie es ihm zukommt … wo jeder dich behandeln würde, wie du es willst, und du jeden, wie er es will? Wenn jeder … leben und leben lassen könnte.“ Seine Stimme kippte zu unverständlichen Obertönen ab, die sie nicht mehr verstehen konnte.
Sie wartete, doch er sagte nichts mehr, als erwartete er von ihr, über das nachzudenken, was sie bereits gehört hatte. Doch es bestand keine Notwendigkeit, über das Offensichtliche nachzudenken: „Nur die Toten können ‚leben und leben lassen’. Ich behandle jeden so, wie ich von ihm behandelt zu werden erwarte, ansonsten wäre ich wahrscheinlich schon bald tot! Der Tod ist ein Bestandteil des Lebens. Wir sterben, wenn das Schicksal es will, und wenn das Schicksal es will, dann töten wir auch.
Du bist unsterblich, dir ist die Macht gegeben, das Rad zu drehen, um das Schicksal zu formen, wie du es haben willst. Du magst mit schönen Phantasiegebilden spielen, sie sogar real werden lassen, und mußt dich nie wegen der Konsequenzen sorgen. Aber in unserem kurzen Leben ist dafür kein Platz. Wie sehr ich mich auch bemühe, wie du zu sein, am Ende werde ich doch sterben wie alle anderen auch. Wir können nichts ändern, unser Leben ist vorherbestimmt. So ist das eben unter Sterblichen.“ Danach war sie voller Unbehagen über den seltsamen Sinneswandel des Dämons verstummt. Aber sie wollte sich davon nicht beirren lassen. Der Tag würde bald anbrechen, sie durfte nicht nervös werden, sie mußte sich völlig unter Kontrolle haben, wenn der Angriff gegen Klovhiri begann. Sie konnte sich keine Gefühlsduselei leisten, so sehr sie auch den Augenblick herbeisehnte, an dem Klovhiris Blut sich blau über ihre Hände ergießen würde, wie das ihrer Schwester und deren Kinder … Ahtseets
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