Bernsteinaugen und Zinnsoldaten
Bälger würden nie den warmen Wind kennenlernen, der sie in den Himmel hob, noch würden sie, wie sie selbst das getan hatte, in die tiefblauen Seen tauchen oder ihre Türme schauen, deren Licht weithin über den Bäumen erstrahlte. Niemals! Niemals …
Sie atmete scharf ein, als ein feuriger Kugelblitz durch das verfilzte Buschwerk hinter ihr brach und an ihrem Kopf vorbei über die Lichtung zum Lager taumelte. Sie sah zu, wie er das Feuer umkreiste – funkensprühend und in der kalten Luft zischend –, bevor er wieder in der Dunkelheit verschwand. Keiner der Schläfer erwachte, und nur zwei wurden unruhig. Sie umklammerte zitternd eines der eckigen, alten Metallbeine des Dämons, denn sie wußte, das Erscheinen des Kugelblitzes war ein Zeichen gewesen, ein Zeichen allerdings, das sie nicht zu deuten vermochte. Die drückende Stille, die darauf folgte, ängstigte sie. Sie bewegte sich ruhelos und spreizte die Flügel.
Und plötzlich hatte der Dämon, scheinbar völlig unmotiviert, wieder zu sprechen begonnen und seinen dunklen Gedanken Ausdruck verliehen: „Nicht alles, was du über Dämonen gehört hast, ist wahr. Auch wir müssen …“ – er suchte nach Worten – „die Konsequenzen unseres Handelns erdulden, auch wir kämpfen untereinander und sterben. Wir sind boshaft, brutal und gnadenlos, aber wir wollen nicht so sein. Wir wollen uns zu etwas Besserem, Höherem entwickeln, zu etwas Gnädigem und Verzeihendem. Wir scheitern dabei häufiger, als wir Erfolg haben, aber wir verlieren doch nicht den Glauben daran, daß wir uns verändern können. Und ihr seid uns ähnlicher, als ihr selbst dies erkennt. Ihr könnt unterscheiden zwischen Vertrauen und Verrat, Gut und Böse, Recht und Unrecht, und ihr könnt euch entscheiden, die Grenze dazwischen niemals zu überschreiten.“
„Aber wie?“ Sie hatte sich umgewandt, um in das Bernsteinauge zu sehen, das so groß wie ihr Kopf war, und um den Redefluß des Dämons zu unterbrechen. „Wie kann ein Tropfen die Gezeiten des Meeres verändern? Das ist unmöglich! Die Welt fließt und strömt, sie schmilzt, wird zu Nebel und gefriert wieder zu Eis, nur um dann wieder zu schmelzen. Ein Rad hat keinen Anfang und kein Ende. Es gibt nicht ‚gut’ und ‚böse’ und auch keine Trennlinie dazwischen. Nur ein Akzeptieren. Wärest du ein Sterblicher, so würde ich dich für verrückt halten!“
Sie hatte sich wieder abgewandt, ihre Klauen gruben lange Rillen in den polymerüberzogenen Stein, während sie um ihre Selbstkontrolle kämpfte. Verrückt … War das möglich, fragte sie sich plötzlich. Konnte ihr Dämon wahnsinnig sein? Wie sonst konnte sie die Gedanken erklären, die er plötzlich äußerte? Verrückte Gedanken, bizarr, selbstmörderisch – aber Gedanken, die sie verfolgen würden.
Oder konnte hinter seinem Wahnsinn sogar Methode stecken? Verrat steckte im Herzen jedes Dämons, das wußte sie. Er konnte sie einfach anlügen, wenn er von Vertrauen und Vergeben sprach – denn er wußte, sie mußte morgen früh bereit sein, und er hoffte wahrscheinlich, Zweifel in ihr säen zu können, damit sie scheiterte. Ja, das klang sehr vernünftig. Aber warum fiel es ihr dann so schwer zu glauben, daß dieser Dämon ihre so heiß ersehnten Ziele zunichte machen wollte? Schließlich hielt sie ihn ja gefangen, und obwohl ihre Zaubersprüche verhinderten, daß er sie in Stücke riß, plante er vielleicht insgeheim immer noch, sie geistig in Stücke zu reißen, sie in den Wahnsinn zu treiben. Warum sollte er sie nicht hassen, sich an ihren Qualen ergötzen und auf ihre Vernichtung hoffen?
Wie konnte er nur so undankbar sein! Nun mußte sie fast über ihren eigenen Zorn lachen, kaum daß sie den Gedanken geformt hatte. Als ob ein Dämon Dankbarkeit kennen würde! Doch seit dem Tag, als sie ihn in den Sümpfen mit Zaubersprüchen in ihren Bann gebracht hatte, hatte sie ihm doch nur die beste Behandlung zuteil werden lasen. Sie hatte ihn verhätschelt und ihn umhergetragen und versichert, daß ihre furchtsame Gefolgschaft dasselbe tat. Sie hatte ihm das Beste vom Besten gegeben – was er sich gewünscht hatte. Auf seinen Befehl hin hatte sie Männer ausgesandt, die nach seinen verstreuten Augen suchen sollten, und er hatte ihr erlaubt, ja, sie sogar dazu ermuntert, diese Augen als ihre eigenen zu gebrauchen, als Wächter und Beschützer. Sie hatte ihm sogar beigebracht, ihre Sprache zu sprechen (obwohl er bezüglich der Welt der Sterblichen so unwissend wie ein
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