Beruf Philosophin oder Die Liebe zur Welt Die Lebensgeschichte der Hannah Arendt
sei nicht mehr so vorlaut.« 1 Max hat schon oft judenfeindliche Bemerkungen aufgeschnappt, aber was die Anspielung an der Wand bedeuten soll, versteht er nicht recht. Was soll ihm fehlen, was die anderen haben? Seine Eltern traut er sich nicht zu fragen, also sucht er Rat im Brockhaus. Dort entdeckt er eine Abbildung der Skulptur des nackten David von Michelangelo und jetzt weiß er, worin er sich von den anderen Jungen unterscheidet. Er ist Jude und als kleines Kind beschnitten worden. Aber wieso das so schlimm sein soll, bleibt ihm ein Rätsel.
Max hat einen reichen Onkel im vornehmen Hufen-Viertel. Wenn er zu Kindergeburtstagen in die Jugendstil-Villa in der Tiergartenstraße eingeladen ist, kommt er sich vor wie der arme Verwandte. Einmal begegnet ihm da ein kleines Mädchen, es ist Hannah Arendt. Sie war, wie er sich später erinnert, »schön und klug, für mich ein Kind aus einer ganz anderen Welt«. 2 Dabei ist Hannah Arendt auch eine Jüdin. Und so lernt der junge Max Fürst, dass nicht alle Juden gleich sind. Es gibt solche und solche.
Anfang des 20. Jahrhunderts hat die Stadt Königsberg etwa 250 000 Einwohner, davon sind nur knapp 4500 Juden. Innerhalb der jüdischen Bevölkerung gibt es große Unterschiede, je nachdem, wie stark man die eigene Tradition und Religion pflegt oder sich an die deutsche Umgebung angepasst hat. In der Gegend zwischen dem Bahnhof und dem Fluss Pregel, wo auch die alte Synagoge steht, wohnen die orthodoxen osteuropäischen Juden. Dort wird Jiddisch gesprochen und man kann Männer sehen mit langen, geringelten Schläfenlocken, bekleidet mit einem Kaftan. Die alteingesessenen deutsch-jüdischen Familien der Mittelschicht wie die Fürsts wohnen »auf dem Tragheim«, im nördlichen Stadtzentrum. Und die wohlhabenden Juden wie die Arendts und die Cohns wohnen in den Vororten wie den Hufen und Amalienau.
Obwohl die Fürsts und die Arendts ganz anderen sozialen Schichten zugehören, ist ihnen doch gemeinsam, dass sie in kulturellen und religiösen Fragen eine liberale Einstellung einnehmen und sich so wenig wie möglich von ihren nicht-jüdischen Mitbürgern unterscheiden wollen. Für sie ist es selbstverständlich, dass sie auch deutsch sind, und es ist ihnen eher peinlich, mit den Glaubensgenossen in der Bahnhofsgegend in Zusammenhang gebracht zu werden. Deren Lebensform ist für sie überholt und von der höheren deutschen Kultur abgelöst worden. »Deutsche Ordnung, deutsche Sitte trat in Judas niedere Hütte«, steht in einem Gebetbuch der jüdischen Gemeinde 3 . Überhaupt hören es die liberalen Juden nicht gerne, wenn man sie Juden nennt, das ist in Deutschland schon in dieser Zeit ein Schimpfwort. Wenn man nach der eigenen Religion gefragt wird, sagt man lieber »mosaisch«.
In solchen Wortfeinheiten äußert sich der tiefe Zwiespalt, in dem sich die angepassten, die assimilierten Juden in Deutschland befinden. Einerseits wollen sie als normale Bürger der Gesellschaft anerkannt werden, andererseits können sie nicht einfach eine Tradition abschütteln, die ihre Identität ausmacht und sie von dieser Gesellschaft trennt. Jener Zwiespalt zeigt sich oft an merkwürdigen Verhaltensweisen. Es gibt den so genannten »Dreitagejuden«, der nur zu den drei hohen jüdischen Feiertagen in die Synagoge geht, bei dem aber zu Hause von jüdischem Gedankengut und Brauchtum nichts zu spüren ist. Und in vielen jüdischen Familien, auch bei den Arendts, ist es durchaus üblich, Weihnachten zu feiern, mit Christbaum, Liedern und Bescherung. Meistens ist die bewusste Übernahme christlicher Sitten mit einem schlechten Gewissen verbunden. So halten sich die Fürsts nicht an das Gebot, nur koscheres Fleisch zu essen. Es kommt auch Schweinefleisch und Schinken auf den Tisch. Dann wird allerdings ängstlich darauf geachtet, dass niemand diese Speisen beim Namen nennt.
Mit jener doppelten Moral wachsen schon die Kinder auf. So lernen sie zum Beispiel im jüdischen Glaubensunterricht, welche Strafen ihnen drohen, wenn sie das Gesetz nicht befolgen, am Schabbat zu ruhen. Jedoch werden nur die wenigsten jüdischen Schüler von ihren Eltern angewiesen, in der Schule am Schabbat nicht zu schreiben. Die meisten gehen über diese Ungereimtheit stillschweigend hinweg und nur einige Privilegierte können es sich leisten, diesen Konflikt elegant zu umgehen, wie die Söhne des Bankdirektors Marx etwa, die sich ihre Schultaschen am Schabbat von einem Diener tragen lassen.
Auch für das Kind Hannah Arendt
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