Beruf Philosophin oder Die Liebe zur Welt Die Lebensgeschichte der Hannah Arendt
zu verlassen und nach Königsberg, in den Schutz der Familien Cohn und Arendt, zurückzukehren.
Die Cohns wie die Arendts sind russischstämmige Juden. Martha Cohns Vater, Jacob Cohn, floh 1852 vor der judenfeindlichen Politik des Zaren Nikolaus aus Russland nach Königsberg. Er gründete eine Firma für Teeimport, die mit den Jahren zu einem der größten Unternehmen in Königsberg wurde. Martha entstammt der zweiten Ehe Jacob Cohns mit Fanny Eva Spiro. Jacob Cohn starb 1906, in Hannahs Geburtsjahr.
Die Familie Arendt ist schon seit dem 18. Jahrhundert in Königsberg ansässig. Hannahs Großvater, Max Arendt, gilt in Königsberg als bedeutender und einflussreicher Mann. Er ist Vorsitzender sowohl der Stadtverordnetenversammlung als auch der liberalen jüdischen Gemeinde. Paul, sein Sohn, ist eines von zwei Kindern aus der Ehe mit Johanna Wohlgemuth. Als sie um 1880 starb, heiratete Max Arendt ihre Schwester, Klara Wohlgemuth.
Paul und Martha Arendt beziehen in Königsberg ein großes Haus im vornehmen Hufen-Viertel, in der Tiergartenstraße, wo die schönsten Villen der Stadt stehen. Martha Arendt führt weiter Tagebuch über ihr Kind, bei dem sie ab dem dritten Lebensjahr eine »starke« Entwicklung feststellt. Hannah kann schon fehlerfrei sprechen, allerdings tut sie das nur mit fern stehenden Erwachsenen; ist sie dagegen allein mit sich und ihren Puppen, fällt sie in eine Kindersprache zurück. Erstaunlich ist das Gedächtnis und die Neugier des Mädchens. Ohne dass sie von jemandem dazu angeleitet worden wäre, hat sie sich alle Buchstaben des Alphabets beigebracht. Sosehr sich die Mutter über diese »intellektuelle Frühreife« freut, ist sie doch auch enttäuscht, dass die Tochter offenbar keine musikalische Veranlagung zeigt. »Singt viel«, notiert sie in ihr Buch, »mit Leidenschaft geradezu u. durchaus falsch.«
In Martha Arendts Aufzeichnungen spürt man oft weniger den Stolz über die Fortschritte der Tochter als die Sorge darum, wie das Kind die Krankheit des Vaters verkraftet. Mit auffallender Erleichterung und Zufriedenheit vermerkt sie, wenn Hannah einen fröhlichen und geselligen Charakter an den Tag legt und »leicht zu lenken« ist. Das Kind sei »immer zufrieden und glücklich«, schreibt sie in ihr Tagebuch.
Diese Beobachtungen sagen mehr über die Mutter als über ihre Tochter. Martha Arendt muss selbst ein sehr verängstigtes und unsicheres Kind gewesen sein. Sie sieht sich im Vergleich zu ihrem Mann als viel zu sensibel und lebensuntüchtig. Und wenn sie an ihrer Tochter Hannah die gleiche Sensibilität beobachtet, dann wünscht sie, das Mädchen möge doch mehr von ihrem starken Vater haben: »Könnte sie nicht ihrem Vater ähneln! Die Arendts sind so viel robuster in ihren Gefühlen und können darum das Leben so viel besser meistern wie Menschen unsern Schlages.«
Die kleine Hannah spürt sicher etwas von diesem mangelnden Selbstbewusstsein ihrer Mutter – und auch von deren Erwartungen. Martha Arendt will, dass ihre Tochter trotz des schweren Schicksalsschlags in der Familie eine glückliche Kindheit hat. Ein Kindermädchen kümmert sich um Hannah, sie hat einen großen Garten zum Herumtoben und viele Spielsachen. Damit sie mit anderen Kindern zusammenkommt, schickt Martha Arendt sie in einen Kindergarten. Nach Hause darf Hannah keine Kinder einladen. Der sich rasch verschlechternde Zustand von Paul Arendt lässt das nicht zu.
Martha Arendt tut alles, damit Hannah ein unbeschwertes Leben hat. Aber es ist nicht möglich, die Krankheit des Vaters ganz vor dem Kind zu verbergen. Es kommt vor, dass Paul Arendt auf einem Spaziergang von einer Lähmung befallen wird und unvermittelt zu Boden stürzt. Hannah weiß nur, dass der Vater krank ist und mit aller Rücksicht behandelt werden muss. Oft spielt sie in seinem Zimmer mit ihm Karten. Oder sie spielt Krankenschwester, die den Vater pflegt. Aber Paul Arendt tut sich schwer, mit einer sensiblen Kinderseele umzugehen. Er war immer schon ein ernster, verschlossener Mensch, der auf andere unzugänglich wirkte. Das wird jetzt noch verstärkt durch eine Krankheit, die auch sein Selbstverständnis zerstört hat. Statt in Beruf und Gesellschaft seinen Mann zu stehen, ist er zum Nichtstun verdammt, auf andere angewiesen, ein Pflegefall. Wenn seine Tochter mehr Aufmerksamkeit für sich fordert, reagiert er eher hilflos und gereizt. In das Erziehungsbuch seiner Frau trägt er einmal ein: »Wird am Tag unbequem durch Wachliegen und das
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