Beruf Philosophin oder Die Liebe zur Welt Die Lebensgeschichte der Hannah Arendt
Aufbruchstimmung erfasst sind, liegt an der ungeheuren Entwicklung der industriellen und wirtschaftlichen Kräfte.
Seit 1895 herrscht eine ständige Hochkonjunktur, was in erster Linie auf die vielen Erfindungen und Entdeckungen zurückzuführen ist. Deutsche Naturwissenschaftler erhalten doppelt so viele Nobelpreise wie jede andere Nation. Der Arzt Robert Koch findet den Erreger der Lungentuberkulose, bis dahin eine wahre Volksseuche. In den Laboratorien der Bayerwerke wird das schmerzstillende Mittel Aspirin entwickelt. Wilhelm Conrad Röntgen entdeckt die so genannten X-Strahlen, mit denen man in einen Menschen hineinsehen kann. Aber auch auf dem Gebiet der Künste, in Literatur, Malerei und Musik werden deutsche Namen wie Thomas Mann, Max Liebermann und Richard Wagner weltweit bekannt. Das Kennzeichen »Made in Germany«, 1887 von den Engländern verfügt, um die Marktchancen der deutschen Produkte zu verschlechtern, wird zum Gütesiegel für Qualität. Es vergeht kaum ein Tag, an dem nicht ein neues Deutsches Reichspatent (D.R.P.) angemeldet wird.
Die Wunder der Technik verändern auch den normalen Alltag. In manchen Haushalten gibt es jetzt ein Telefon. In den Großstädten wie Berlin wird die Gasbeleuchtung zunehmend durch elektrisches Licht ersetzt. Ab 1905 fahren in Deutschlands Hauptstadt die ersten Kraftomnibusse, und die Herren Skladanowsky und Meßter zeigen in finsteren Räumen mit Hilfe eines Kinematographen einem amüsierten, aber skeptischen Publikum bewegliche Bilder. Man kann jetzt mit einem neuen Gerät den Staub aus seiner Wohnung saugen, zum Schreiben einen mit Tinte gefüllten Stift benutzen und sich mit einem Apparat des Mister Gilette aus Amerika das Gesicht rasieren.
Der Glaube an die eigene Stärke und an eine glorreiche Zukunft kennt in der Kaiserzeit keine Grenzen. Zugleich wächst das Bewusstsein, etwas Besonderes zu sein und aufgrund der wirtschaftlichen Potenz auch ein Recht auf eine gewichtige Stimme im Konzert der großen Nationen zu haben. Große Politik zu machen, das heißt um die Jahrhundertwende, Kolonialpolitik zu betreiben. Frankreich und England sind mit ihren gewaltigen Kolonialreichen in Asien und Afrika hier das Vorbild. Aber auch Russland, das sich nach Osten ausdehnt, und kleinere Staaten wie Belgien, Holland und Spanien haben ihre Territorien bereits erweitert. Wenn man in der Weltpolitik mitmischen will, so denkt man im wilhelminischen Deutschland, dann muss man Kolonien erwerben. Der Reichskanzler Bülow drückt das in einer Rede so aus: »Wir wollen niemanden in den Schatten stellen, aber wir wollen auch einen Platz an der Sonne.«
Gleichzeitig versucht man, Verbündete und Gegner für einen möglichen Krieg auszumachen. Das ist ein gefährliches Spiel. Russland ist durch die Revolution von 1905 und einen Krieg mit Japan zwar geschwächt, aber unberechenbar. Österreich verfolgt mit der Annexion Bosniens und der Herzegowina eigene Interessen im Balkan, und wie England und Frankreich auf die neuen Großmachtansprüche Deutschlands reagieren werden, ist noch nicht absehbar.
Ungeachtet der großen Politik nimmt Martha Arendt in Hannover ihre Mutterrolle sehr ernst. In ihrem Tagebuch vermerkt sie alles, was mit der kleinen Hannah zusammenhängt. Penibel führt sie Buch darüber, wann und wie lange das Kind gestillt und gefüttert wird, welche kleineren Krankheiten auftreten, wie es auf Medikamente reagiert und wie sein körperliches Wachstum vorangeht. Schon sehr früh achtet sie darauf, ob sich bei dem Kind Persönlichkeitsmerkmale zeigen:
»Das Temperament ist ruhig, aber doch lebhaft. Gehörempfindungen glaubten wir schon in den ersten Wochen feststellen zu können; Gesichtsempfindungen, abgesehen von allgemeinen Lichtempfindungen, in der siebenten Woche, in welcher überhaupt ein inneres Erwachen von uns beobachtet wird. Das erste Strahlen beginnt mit der siebenten Woche.«
Die kleine Hannah ist das ganze Glück ihrer Eltern. Sie ist gesund, ist meistens zufrieden, zeigt ein lebhaftes Interesse an ihrer Umwelt und lacht viel, sie ist ein »richtiges Sonnenkind«.
Im zweiten Jahr in Hannover tauchen bei Paul Arendt wieder Symptome der überwunden geglaubten Krankheit auf. Sie deuten eindeutig darauf hin, dass mit dem schlimmsten Verlauf zu rechnen ist. Man muss sich nun mit der Tatsache abfinden, dass Paul Arendt als Ernährer seiner Familie ausfällt. Seinen Beruf kann er nicht mehr ausüben und es bleibt der jungen Familie nichts anderes übrig, als Hannover
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