Beruf Philosophin oder Die Liebe zur Welt Die Lebensgeschichte der Hannah Arendt
Stadt. 7
Durch die Nähe zu Russland wird Ostpreußen schnell zum Kriegsschauplatz. In einer Offensive rücken russische Truppen Richtung Königsberg vor. Zehntausende fliehen aus den besetzten Gebieten. In der Stadt, die sich auf eine Belagerung vorbereitet, herrscht ein großes Flüchtlingselend und es geht die Angst um vor den Russen, die, wie man den Schülern versichert, keine Menschen seien. Die Schwestern von Max Fürst schleifen die großen Messer, um sich vor Vergewaltigung zu schützen. Viele Beamte werden mit ihren Familien evakuiert, und wer immer es sich leisten kann, setzt sich in den Westen ab.
Auch Martha und Hannah Arendt verlassen Königsberg. Sie fahren mit der Bahn nach Berlin, dort wohnt Marthas jüngere Schwester Margarete mit ihrem Mann und den drei Kindern. Hannah geht nicht gern fort aus Königsberg und in Berlin hat sie Heimweh. Martha rechnet anscheinend mit einem längeren Bleiben in Berlin, denn sie meldet Hannah an einer Schule im Stadtteil Charlottenburg an.
Unterdessen starten deutsche Truppen eine Gegenoffensive, um die Russen wieder aus Ostpreußen zurückzudrängen. Ende August kommt es zur Schlacht von Tannenberg, bei der die russische Narew-Armee vernichtend geschlagen wird. Nach einer weiteren Niederlage bei den masurischen Seen räumen die Russen Ostpreußen. Als Retter des Vaterlandes wird General von Hindenburg gefeiert. Zu Ehren des »eisernen« Generals und zur Aufbesserung der Kriegskasse hat man auf dem Königsberger Paradeplatz eine hölzerne Hindenburg-Statue aufgestellt. An einem Stand daneben kann man einen Nagel aus Eisen, Silber oder Gold kaufen, den man dann in das Denkmal hämmert. Der patriotische Eifer der Königsberger hält sich aber in Grenzen. Auch am Ende des Krieges wird das eiserne Kleid des Generals noch große freie Flecken aufweisen.
Nach nur zehn Wochen in Berlin können die Arendts wieder in ihre Heimatstadt zurückkehren. In Königsberg wimmelt es noch von Soldaten, viele Schulen sind zu Lazaretten und Truppenunterkünften umfunktioniert, dennoch kommt wieder ein halbwegs normales Leben in Gang. Nachdem man die Russen in die masurischen Sümpfe gejagt hat, ist man felsenfest davon überzeugt, dass der Krieg bald vorbei und Deutschland der Gewinner sein wird. Den Kindern in den Schulen wird eingebläut, dass es süß und ehrenvoll sei, für das Vaterland zu sterben, und Max Fürst am Löbenichter Gymnasium muss das Lied Auf der Ostwacht lernen, das sein Musiklehrer als Gegenstück zur Wacht am Rhein komponiert hat.
Mit zunehmender Dauer aber bekommt der Krieg ein härteres Gesicht. Lebensmittel werden knapp und für viele Firmen bedeutet es den Ruin, dass der wichtige Wirtschaftspartner Russland wegfällt und durch die englische Blockadepolitik der Handel über den Hafen fast zum Erliegen kommt.
Martha Arendt wird von den Kriegsnöten nur wenig getroffen, sie kann sich noch auf das große Vermögen ihrer Familie stützen. Was ihr mehr Sorgen bereitet, ist die Entwicklung ihrer Tochter. Hannah, so vermerkt sie in ihr Tagebuch, macht einen sehr nervösen Eindruck, sie hat »allerhand Ängste«, vor anstehenden Klassenarbeiten »schlottern ihr die Knie«. Auch ist sie häufig krank und Martha Arendt kann nicht übersehen, dass Hannah immer dann erkrankt, wenn Reisen geplant werden oder eine Trennung von der Mutter droht. Die Serie von Krankheiten reißt nicht mehr ab. Zuerst eine Grippe, dann Masern, dann Keuchhusten, dann eine doppelte Mittelohrentzündung, dann Diphterie. Zu allem Überfluss muss sich das Kind auch noch einer »peinigenden Zahnregulierung« unterziehen. Bedingt durch ihre Krankheiten kann Hannah oft die Schule nicht besuchen, einmal über zehn Wochen lang nicht. Trotzdem gehört sie immer zu den Besten in ihrer Klasse.
Wenn Hannah wieder einmal krank ist, verbringen Mutter und Tochter viel gemeinsame Zeit allein zu Hause. Martha genießt es, Hannah zu pflegen und mit ihr zu lernen. Aber mit zunehmendem Alter versucht Hannah auch, sich dieser schützenden Geborgenheit zu entziehen. Dann kann es sogar vorkommen, dass sie gegenüber ihrer Mutter »ungehorsam und rüpelhaft« ist. Martha Arendt, die manchmal fast zwanghaft darauf bedacht ist, in ihrer Erziehung alles richtig zu machen, fühlt sich nun oft überfordert und hilflos.
Ab Mitte 1917 führt sie ihr Erziehungsbuch nicht mehr weiter. Die letzte Eintragung zeigt, dass sich im Verhältnis von Mutter und Tochter etwas verändert hat. Hannah, so klagt Martha Arendt, fange an,
Weitere Kostenlose Bücher