Beruf Philosophin oder Die Liebe zur Welt Die Lebensgeschichte der Hannah Arendt
Prolog
»Nur das ist wahr, dem wir bis zuletzt die Treue halten.«
Am 19. März 1962 ereignet sich auf einer Straße, die durch den New Yorker Central Park führt, ein Verkehrsunfall. Ein Taxi wird von einem Lastwagen gerammt. Auf dem Rücksitz des Taxis sitzt eine sechsundfünfzigjährige Frau, die bei dem Zusammenstoß schwer verletzt wird. Ihr Name ist Hannah Arendt, eine Jüdin mit amerikanischem Pass. Sie lehrt an verschiedenen amerikanischen Hochschulen Politik und Philosophie. Weit über die Grenzen Amerikas hinaus ist sie berühmt geworden durch ihre Artikel, Bücher und ihre öffentlichen Auftritte. Für viele gehört sie zu den bedeutendsten Frauen des Jahrhunderts.
Im Krankenwagen erwacht Hannah Arendt aus ihrer Ohnmacht. Ihr ist sofort klar, was passiert ist. Zuerst versucht sie, ihre Arme und Beine zu bewegen, um festzustellen, ob sie gelähmt ist. Dann überprüft sie ihr Gedächtnis, sehr sorgfältig, »ein Jahrzehnt nach dem anderen« ...
Sie denkt an ihre Kindheit und Jugend in Königsberg, an ihre Studienzeit in Marburg und Heidelberg, an die Lehrer, die ihr bis heute so viel bedeuten: an Martin Heidegger, mit dem sie eine Liebesaffäre hatte, und an Karl Jaspers, der sie zur Vernunft brachte. Sie erinnert sich an ihre Flucht aus Deutschland, an das Exil in Paris, wo sie ihren Mann Heinrich Blücher kennen lernte, an das Frauenlager im südfranzösischen Gurs und an die dramatische Flucht aus Europa, über Marseille nach Lissabon und von dort mit dem Schiff in die Neue Welt, nach Amerika. Sie denkt an ihr Engagement in der zionistischen Bewegung, an die vielen Freunde, die sie gewonnen, und an die vielen Feinde, die sie sich geschaffen hat. An die langen Jahre der Arbeit an ihrem Buch über den Totalitarismus, das sie weltberühmt gemacht hat. Und an den Nazi Adolf Eichmann, dem in Jerusalem der Prozess gemacht wurde und über den sie ein Buch schreiben möchte, das ihr am Herzen liegt.
Hannah Arendt ist beruhigt. Sie hat keine Gedächtnislücken und gelähmt ist sie auch nicht. Aber sie ist in einem merkwürdigen Zustand, als ob sie zwischen Tod und Leben schweben würde. Noch lange Zeit später denkt sie fasziniert an jene Momente zurück. Ihrer Freundin Mary McCarthy schildert sie diese Erfahrung so: »Das Wichtigste war, dass ich einen flüchtigen Augenblick lang das Gefühl hatte, ich hätte es selbst in der Hand, zu entscheiden, ob ich leben oder sterben wolle. Und obwohl ich nicht dachte, dass der Tod etwas Schreckliches sei, habe ich doch auch gedacht, dass das Leben ganz schön sei und ich mich lieber dafür entscheide.«
Hannah Arendt weiß aber inzwischen auch, dass sie sich nicht für jedes Leben entscheiden würde. Bereitwillig würde sie auf eine Existenz verzichten, die »weltlos« ist, in der sie keine Freunde hätte, keine Reisen machen könnte und sich nicht in die öffentlichen Angelegenheiten einmischen dürfte.
Sie hat nicht immer so gedacht. Als junges Mädchen war sie zwar hochintelligent, aber auch sehr einsam. Sie wollte alles über sich und die Welt wissen und vergrub sich dabei nur immer tiefer in die eigene »Besonderheit«. Es war nicht zuletzt die Affäre mit dem jungen Dozenten Martin Heidegger, die sie von diesem Weg abbrachte.
Hannah Arendt wollte »sichtbar« werden und sie machte die Entdeckung, dass dazu nicht nur Intelligenz und Tiefsinn gehören, sondern vor allem Mut. Und zwar der Mut, auf seine Besonderheit verzichten, sich aus der Hand geben zu können, zu lernen, »ein Mensch unter Menschen zu werden«. Ein Mensch unter anderen zu sein, heißt für Hannah Arendt auch, sich im Gespräch auseinanderzusetzen, um etwas über sich zu erfahren und mit anderen zusammen die gemeinsame Welt zu gestalten. Diese Einsicht war für sie wie eine Befreiung – die sie allerdings traf wie ein Schlag »mit dem Hammer auf dem Kopf«.
Mut und Dankbarkeit und Treue – diese drei scheinbar widersprüchlichen Tugenden gehören eng zusammen, schreibt Hannah Arendt in einem Aufsatz zum Geburtstag ihres verehrten Lehrers Karl Jaspers. Und sie fügt hinzu: »Am Ende unseres Lebens wissen wir, dass nur das wahr war, dem wir bis zuletzt die Treue halten konnten.«
Sie selbst hat vielem die Treue gehalten: ihren Wurzeln in der deutschen Sprache und Kultur, ihren alten Freunden in Europa und ihren neuen Freunden in Amerika. Sie hat aber auch immer wieder neu angefangen, und das macht es so schwer, sie einzuordnen. »Wer sind Sie?«, wurde sie auf einem Kongress gefragt. »Sind
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