Beruf Philosophin oder Die Liebe zur Welt Die Lebensgeschichte der Hannah Arendt
Weltanschauungen.
Hannah zeigt für eine Dreizehnjährige eine erstaunliche geistige Frühreife. Später wird sie diesen Wissensdrang eher als Ausdruck einer Not verstehen. In einem Text der neunzehnjährigen Hannah Arendt mit dem Titel Die Schatten 2 versucht sie zu erklären, warum sie als Kind und Jugendliche trotz ihrer Begabung nie ein Gefühl der Unwirklichkeit verlassen hat. Ihr Wissen, so schreibt sie über sich in der dritten Person, blieb »isoliert und verkapselt«, ihr Leben war »in sich versunken« und die Gegenwart sei an ihr abgeprallt, weil sie einer inhaltslosen »Sehnsucht« nachhing.
Anfang 1919 entschließt sich Hannahs Mutter, wieder zu heiraten, und zwar den sechsundvierzigjährigen verwitweten Geschäftsmann Martin Beerwald. Offensichtlich möchte Martha Arendt, inzwischen einundfünfzig Jahre alt, durch eine erneute Ehe für sich und ihre Tochter gesicherte Verhältnisse schaffen und Hannah wieder eine Familie geben. Martin Beerwald hat zwei Töchter, Clara und Eva. Die eine ist sechs, die andere fünf Jahre älter als Hannah. Im Sommer 1920 findet die Hochzeit von Martha Arendt und Martin Beerwald statt und Hannah zieht mit ihrer Mutter in das Beere aldsche Haus in der Busoltstraße, nur zwei Straßen entfernt von der Tiergartenstraße.
Wenn Martha gehofft hat, dass mit Martin Beerwald wieder eine strenge, väterliche Hand über die Erziehung ihrer Tochter wacht, dann sieht sie sich bald getäuscht. Hannah hat ihren eigenen Kopf und der ruhige, auf stille Ordnung bedachte Martin Beerwald kann mit seiner lebhaften und oft widerspenstigen Stieftochter wenig anfangen. Auch der Unterschied zwischen Hannah und den Beerwald-Töchtern könnte größer nicht sein. Clara und Eva sind brave, häusliche Mädchen, ziemlich unansehnlich, beide mit hoher Stirn und schweren Augenlidern, die ihrem Blick etwas Melancholisches geben. In der Tat leidet besonders Clara oft unter Depressionen und sie wird sich mit dreißig Jahren das Leben nehmen.
Hannah dagegen sprüht vor geistiger Neugier. Sie ist enorm gewachsen und mit ihren schwarzen Haaren, dem offenen Gesicht und ihren großen dunklen Augen ist sie fast eine Schönheit. Ihre Lust an neuen Erfahrungen, ihre fiebrige Suche nach Außerordentlichem und »Absonderlichem« 3 machen sie immun gegen alle Versuche, sie zu bändigen. Sie weigert sich grundsätzlich, an den Familienfesten der Beerwalds teilzunehmen und oft führt ihre ungebärdige Art zum Eklat. So verspeist sie einmal mit viel Appetit ungeniert ein Tablett belegter Brötchen, das man für ein Fest zubereitet und in der Küche abgestellt hat. Als ihre Stiefschwestern den Frevel entdecken, sind sie außer sich vor Empörung und gehen auf Hannah los, es kommt zum Handgemenge, bei dem schließlich die Wanduhr krachend zu Boden fällt. 4
Hannah macht es ihren Mitmenschen wirklich nicht leicht. Hemmungslos lässt sie ihren Launen freien Lauf. Besonders morgens ist ihre Stimmung schlecht, dann muss sie erst lange und ausgiebig alleine frühstücken, bevor sie wieder genießbar ist. Martha Arendt ist nicht die Mutter, die ihrem Liebling solche Grillen austreiben kann und will, im Gegenteil, sie lässt ihrer eigenwilligen Tochter alle Freiheiten und unterstützt sie oft auch noch in ihren Extravaganzen. Als Hannah findet, dass man es niemandem zumuten könne, zu früh am Morgen Unterricht zu haben, muss Martha Arendt bei der Schulleitung bewirken, dass sie von den frühen Griechischstunden befreit wird. Ihren schulischen Leistungen tut das keinen Abbruch. Hannah lernt leicht und schnell. Und wenn sie von einem Fach begeistert ist, geht ihr Lerneifer über den Unterricht hinaus. So wird sie in den so genannten »Grumacher Kreis« aufgenommen, der von dem Studenten Ernst Grumach ins Leben gerufen wurde und in dem Schüler und Schülerinnen der höheren Klassen zusammen über Literatur und Philosophie reden und griechische Texte lesen. 5
Hannah hat sich durch ihre immense Belesenheit neue Welten erschlossen, das macht sie selbstbewusst und oft fühlt sie sich gegenüber Gleichaltrigen überlegen. Sie ist durchdrungen von einer merkwürdig ziellosen Sehnsucht. »Ich meine nicht Sehnsucht nach einem bestimmten Was«, erklärt sie in Die Schatten , »sondern Sehnsucht als das, was ein Leben ausmachen, für es konstitutiv werden kann.« 6
Die Königsberger Welt kommt ihr oft eng und spießig vor. Hannah will sich von dieser Welt abheben, und das erreicht sie unter anderem dadurch, dass sie ihre Umwelt
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