Berufen (Die Kinder des Schöpfers, Band 1) (German Edition)
Vater. Dieser erstarrte.
Die Zeit stand still.
Dann setzte sie in Zeitlupentempo wieder ein.
Crevi hielt einen Moment den Atem an. Dann stürmte sie vorwärts, stieß die Menschen ungestüm bei Seite. Wusste selbst nicht, was sie damit erreichen wollte.
Die Luft war sirupartig. Es schien, als würde sie Stunden brauchen, um einen Fuß vor den anderen zu setzen.
Sie riss die Augen auf, atmete stoßweise, ihr Magen drehte sich.
Alles flimmerte. Die Hitze, die stickige Luft, die Gerüche von Schweiß – all das stürzte rasend auf sie ein.
Zwischen den längst verschwommenen Silhouetten hindurch verfolgte Crevi wie der Mann auf der Bühne ihren Vater zu Boden stieß. Das Messer hob.
Sie öffnete den Mund. Schrie irgendetwas, das vermutlich keinen Sinn ergab. Beinahe hatte sie ihr Ziel erreicht.
Ein schmatzendes Geräusch erklang.
Der Mann stieß ihrem Vater die Waffe bis zum Heft in die Brust.
Einmal, zweimal, dreimal,…
Crevi hatte die Bühne erreicht. Im gleichen Moment drehte der Fremde sich um.
Wie eine Woge kalten Wassers überlief es sie und für einen winzigen Augenblick glaubte sie, aus ihrer Trance zu erwachen.
Ein mageres Gesicht, mit eingefallenen Wangen und tief in den Höhlen li egenden Augen – Augen in denen der kranke Wahnsinn geschrieben stand, der diesen Menschen beherrschte.
Er stieß ein unmenschliches Knurren aus. Dann war der Augenblick vorbei. Der Fremde erhob sich, blickte gehetzt über die panischen Menschen und setzte mit einem gewaltigen Satz auf allen Vieren über eine kleine Gruppe hinweg.
Was dann geschah, konnte Crevi nicht sagen. Plötzlich fand sie sich ebenfalls auf dem Podest wieder – war sie hinauf geklettert? Ließ sich kraftlos neben ihrem Vater zu Boden sinken. Mit panischen Bewegungen, die viel zu langsam schienen, tastete sie nach seinem Puls, begutachtete die grausigen Wunden und rief dabei um Hilfe; dass man einen Arzt holen solle wahrscheinlich. Sie wusste es selbst nicht.
Ihr Vater atmete schwach. Seine Lider flatterten und seine trüben Augen fanden ihr Gesicht. Seine Lippen bewegten sic h und formten Worte, die niemals jemand hören würde.
Crevi schluchzte, Tränen liefen ihr über die Wangen. Stammelnd flüsterte sie, dass sie ihn liebe, dass sie ihn immer lieben würde. Sie sagte ihm, er würde es schaffen, die Ärzte kämen bald. Sie bat ihn, nicht aufzugeben, nicht die Augen zu schließen.
Doch es war bereits zu spät.
Joseph Sullivan war tot.
Erster Teil
I . Linelle Falah
1. Höllenmärchen
Habe ich erwähnt, dass ich ohne meinen Schatten nicht vollständig wäre? Wenn nicht, tue ich dies jetzt. Aber seid gewiss, dies ist nur eine Anmerkung am Rande. Ich bevorzuge es, die Eindrücke und Ereignisse unverfälscht durch die Augen meiner Schützlinge zu beobachten, weshalb ich mich zurückhalte, was Bewertungen meinerseits angeht.
Tatsache ist, dass mein Schatten es mir ermöglicht , an zwei Orten gleichzeitig zu sein. Wie gesagt, sie ist mein zweites Paar Augen und Ohren – und übernimmt ihre Aufgabe mit bewundernswerter Sorgfalt, so dass mir nichts entgeht. Mein zweiter Schützling darf schließlich nicht vergessen werden.
Yvena Catah stöhnte. Unruhig wälzte sie sich von einer Seite auf die andere. Sie trat und schlug um sich, während sie leidvolle Geräusche ausstieß. Un fähig diese zu kontrollieren.
Irgendwann blieb sie auf dem Rücken liegen und richtete sich sehr langsam auf.
Sofort drehte sich die Welt um sie herum. Schwarze Punkte tanzten vor ihren Augen, der Schweiß stand ihr auf der Stirn. Sie zitterte.
Es war wieder einmal soweit.
In einem Anflug von Panik starrte sie auf ihre zuckende Hand.
Urplötzlich stieg die Galle ihr die Kehle hoch. Gerade noch rechtzeitig schaffte sie es, sich soweit aus dem Bett zu rollen, dass sie sich auf den Boden übergab .
Yve hustete und würgte, wobei sie immer wieder von heftigem Zittern erschüttert wurde.
Dann war es vorbei und sie konnte ein paar Sekunden lang durchatmen.
Keuchend strich sie sich die verschwitzten Haare aus dem Gesicht und hob die Beine über die Bettkante.
Wankend stand sie auf und taumelte auf die ihr gegenüber liegende Tür zu.
Sie wusste, was zu tun war. Das alles hatte sie schon hunderttausend Mal getan.
Hastig stieß sie die Tür mit dem Fuß auf und eilte auf ihre Kulturtasche zu. Mit hektischen Bewegungen riss sie deren Knöpfe auf und durchwühlte den Inhalt. Spiegel, Kamm, Nagelschere… »Wo ist dieses verflixte Ding?!« Endlich fand
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