Berufen (Die Kinder des Schöpfers, Band 1) (German Edition)
tat.
Glück war eine ihrer liebsten Empfindungen.
Sie bückte sich nach ihrem Kamm und ordnete ihre halblangen dunkelbraunen Haare.
Unzufrieden verzog sie das Gesicht, als eine Strähne sich nicht glätten ließ. Sie mochte ihre Haare nicht besonders, am wenigsten, wenn sie sie offen trug. Deswegen griff sie gleich darauf nach einem Band und band sie zurück.
Sie betrachtete ihr kränklich blasses Gesicht.
»Was sich nicht ändern lässt, lässt sich nicht ändern.«
Ihr Blick nahm etwas Trotziges an, dann ließ sie ein leicht verächtliches Lächeln um ihre Mundwinkel spielen. Sie hatte schließlich einen Ruf zu verteidigen und Respekt zu gewinnen.
Yve war zufrieden.
Nun ging es an die Ausstattung.
Gemächlich ging sie zu einem weißen, mit Blümchen bemalten Wandschrank in der Küche hinüber, schloss ihn auf und warf in Gedanken versunken einen Blick auf ihren wertvollsten Besitz.
An einer Holzwand waren in den verschiedensten Halterungen über zwanzig unterschiedliche Waffen – von Messern über Dolche, bis zu Kurzschwertern und kleinen Armbrüsten – befestigt.
Die meisten von ihnen hatte Yve niemals benutzt, allerdings war sie der Meinung man konnte nie genug besitzen, um sich zu verteidigen.
In Ral’is Dosht musste man auf alles gefasst sein und sich unbewaffnet auf die Straße zu wagen war so ziemlich die größte Dummheit, die man begehen konnte.
Es hatte lange gedauert, eine so große Sammlung beisammen zu haben.
Obwohl Yve es nicht zugeben wollte, war sie stolz, dass es ihr gelungen war. Ebenso wie sie stolz war, nicht auf der Straße wie die Übrigen zu leben. Sie hatte hart gearbeitet, um sich das alles zu leisten.
»Na ja, so könnte man es zumindest nennen.« Sie musste über sich selbst kichern.
Den größten Teil des Geldes hatte sie einem Freund ihrer Tante nach dessen Ableben geraubt.
Reue hatte sie dabei nicht empfunden. Nicht nachdem er versucht hatte, sie umzubringen.
» Aber so läuft das Leben in der Hölle nun mal.«
Einer versuchte, den anderen umzubringen. Einer raubte den anderen aus. Derartiges stand an der Tagesordnung. Daher konnte man auch nie vorsichtig genug sein.
Yve entschied sich für einen Dolch, den sie sich an ihren Unterarm schnallte, ein Messer, das sie in ihrem Stiefel verschwinden ließ und einen Degen, der offen an ihrer Seite baumelte, um jedem Räuber eine Warnung zu sein.
Aus einem Geheimfach am Boden des Schrankes holte sie einen kleinen Geldbeutel, den sie sich mit einer leichten Metallkette an den Gürtel schnallte und in ihrer Hosentasche versenkte.
Brauchte sie noch etwas? Sie ging die Liste in ihrem Kopf durch, die sie jeden Morgen abhakte. Vergesslichkeit konnte in Ral’is Dosht ebenfalls zu einem vorzeitigen Tod führen.
Sie glaubte, nichts übersehen zu haben.
Auf dem Weg zur Tür überlegte sie, ob sie nicht etwas frühstücken sollte, doch dann entschied sie, dass ihr viel zu übel dafür war.
Gewissenhaft schloss sie die Tür hinter sich ab, bevor sie da s Treppenhaus hinunterpolterte.
Der Kanal gurgelte plätschernd unter der Brücke dahin. Die braunen Wassermassen waren dickflüssig, zäh und stanken wie die Pest. Meilenweit war der faulige Geruch wahrzunehmen.
Vermutlich hätte kein Bewohner der Stadt Ral’is Dosht in der Nähe des Abwasserflusses wohnen wollen, wenn man dem Gestank an irgendeiner Stelle der Stadt hätte entkommen können. Tatsächlich erfüllte der Geruch auch den hintersten Winkel innerhalb der Stadtmauern, die die verbannten Bewohner daran hinderten, diesen Ort zu verlassen.
Allerdings musste Yve zugeben, dass dies einer der schlimmsten Stadtteile war.
Doch manchmal musste man nehmen, was man bekommen konnte. Das war Yves Motto. Wenn es nichts Besseres gab, musste man sich mit dem zufrieden geben, was zu haben war.
Sie summte eine leise Melodie vor sich hin, während sie gemächlichen Schrittes über die mit Vogeldreck bedeckte Brücke schlenderte. Kurz lehnte sie sich an die brüchige Balustrade und spuckte angewidert hinab; es war ihre Art, um diesem Ort ihre Verachtung entgegen zu bringen. Danach wandte sie sich wieder ihrer allmorgendlichen Runde zu.
Sie musste verhindern, dass sie die wenigen Anhänger, die sie bereits um sich gescharrt hatte, verlor. Deswegen mussten diese Freundschaften jeden Morgen neu gefestigt werden. Ein wenig Aufmunterung hier, ein wenig Beistand dort; sie musste wissen, auf wen sie zählen konnte und diese Leute musste sie sich warm halten.
» Nur leider,
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