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Bestiarium

Bestiarium

Titel: Bestiarium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Tobias
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Anwesenden waren an der Jagd beteiligt gewesen, und der wichtigste Zeuge wäre in dem Durcheinander beinahe ums Leben gekommen, zumindest besagten das die Gerüchte, die zurzeit in Umlauf waren.
    »Sie arbeiten auf den Docks?«, fragte Simon beiläufig den ersten Mann, vor dem er stehen blieb. Er konnte an seinen Händen und an seiner Kleidung erkennen, dass er richtig vermutete.
    Der Mann nickte.
    »Soll das ein ›Ja‹ sein?«, hakte Simon nach, und sein Französisch wurde von hartem, trotzigem Flämisch beantwortet. Die sprachlichen Animositäten zwischen den Belgiern und den Franzosen waren nichts Neues. Zwei Angehörige des IWS-Teams waren Engländer, der eine kam von Scotland Yard, während der andere ein forensischer Wildtiergenetiker von der Londoner Universität war. Englisch war die gemeinsame Sprache aller, die ihr Leben in der Schifffahrt verbrachten. Es war die gleiche universelle Sprache, die in den Cockpits der Zivilluftfahrt und in den Kontrolltürmen gesprochen wurde.
    »Ich bin Jean-Baptiste Simon, Stellvertretender Direktor des IWS«, stellte Simon sich ohne lange Umschweife vor. »Was haben Sie gesehen?«
    Der Arbeiter antwortete zögernd. »Ich habe aus einem der Container ein Geräusch gehört, so als würde sich darin etwas bewegen. Eigentlich sollten Autos darin gewesen sein, aus Paris. Der Behälter war bereits erheblich beschädigt. Das Tier kam heraus und griff sofort an. Ich war nicht mehr als drei Meter von ihm entfernt.«
    »Und was für ein Tier war es?«
    »Das weiß ich nicht.«
    »Aber Sie müssen doch etwas erkannt haben, schließlich betrug der Abstand zwischen Ihnen und diesem Tier nur drei Meter, wie Sie gerade meinten.«
    »Zuerst dachte ich, es sei ein Nashorn, aber als es an mir vorbeirannte, erkannte ich, dass es etwas ganz anderes als ein Nashorn war.«
    »Ein Büffel vielleicht?«
    »Nein.«
    »Es gibt zahllose verschiedene Arten«, versuchte Simon ihm auf die Sprünge zu helfen. »Kaffernbüffel, die unterschiedlichsten Waldbüffelarten, Bisons.«
    »Das Tier hatte ein einziges Horn, und es war weiß. Aber es war ganz bestimmt kein weißes Nashorn.«
    »Wie können Sie das so genau wissen?«
    »Ich hab mal eins im Fernsehen gesehen, an das Steve Irwin sich in Animal Planet angeschlichen hat. Aber das hier sah völlig anders aus.« Der Mann war sich offenbar seiner Sache absolut sicher.
    »Wie anders?«
    »Das Horn war gewunden wie ein Korkenzieher.«
    »Dann vielleicht irgendeine Antilopenart?«, meinte Simon. »Einige werden ziemlich groß und haben spiralförmige Hörner. Vielleicht wurde das zweite Horn von einem Wilderer entfernt, oder es ist einfach abgebrochen. So etwas passiert schon mal.«
    »Nein. Schnell, fast wie eine Antilope, ja. Aber eher wie ein Pferd, riesengroß. Wild. Ich weiß nicht. Es war dunkel.«
    Ein Mann bestand darauf, dass es eine arabische Oryxantilope war. Er kannte diese Art aus dem Zoo. Ein anderer meinte scherzhaft, dass das Tier irgendwie einem Einhorn ähnelte, wie er es einmal vor einigen Jahren in einer Ausstellung von Wandteppichen in einem Museum in Anvers gesehen habe. Aber etwa dreimal so groß und »sehr zottig«.
    Ein anderer bestätigte die Größe, konnte sich aber nicht erinnern, dass es ungewöhnlich zottig gewesen sei. Es habe »mächtig geschnaubt«, betonte der Mann noch. Simon wurde schlagartig bewusst, dass dieser Zeuge ein Deutscher war. Und die galten gemeinhin als sachlich und präzise und neigten gewöhnlich nicht zu Übertreibungen. Jedenfalls nicht um vier Uhr morgens.
    »Es war fast prähistorisch«, schloss er seine Beschreibung.
    Jeder Zeuge wusste etwas ähnlich Verwirrendes zu berichten. Rot ... schwarz ... bösartig ... Eine riesige mutierte Ziege ... Das Horn von einem Narwal, überhaupt wie ein Wal ... Ein tiefes, hohles Brüllen. Ein schrilles Jaulen, wie ein Säugling, der Hunger hat und nach der Mutter schreit.
    Nun fiel Simon etwas Komisches auf: vierzehn Erwachsene, davon einige vielleicht in so etwas wie ein kriminelles Vergehen verwickelt. Sie alle berichteten von einem jeweils anderen Tier, wobei aber verschiedene Eigenschaften übereinstimmten. Dass diese eher zu Nüchternheit neigenden Männer sich nicht einig waren, brachte Simon zu der Frage, ob nicht tatsächlich etwas völlig Bizarres aus dem Frachtbehälter entkommen und im Wasser verschwunden war.
    Simon kannte die Sagen und Legenden vom Einhorn, angefangen mit einem angeblichen Skelettfund in der Einhornhöhle im Harz um 1660. Was das Horn

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