Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Bestiarium

Bestiarium

Titel: Bestiarium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Tobias
Vom Netzwerk:
seine Familie erinnern konnte, noch nie geschehen war. Eindringlinge waren hereingelangt.
    Ein Echo erklang, ein zweites und ein drittes. Er wusste, dass die Kugel, die ihn wie eine Rakete getroffen hatte, innerhalb des rund anderthalb Kilometer breiten gewundenen Tals, das von nahezu unüberwindlichen Bergen aus Kalkgestein, so alt wie die Erde selbst, umgeben war, abgefeuert worden war.
    »Lance!«, versuchte er zu rufen, aber nur ein leises Murmeln drang über seine Lippen. Es war zu spät.
    Sie hatten ihn anvisiert. Sogar im dichten Nebel. Sie mussten irgendein neuartiges Nachtsichtfernglas benutzen. Dessen war er sich sicher.
    Er hob die andere Hand, dachte vage daran, ein Zeichen in den Morast zu kratzen, aber es war sinnlos, dann betastete er die Platzwunde an seinem Kopf. Ihm blieb noch nicht einmal genug Zeit, um die Augen zu schließen oder Worte zu formen, die Dämonen zu verscheuchen. Er hatte sie hier drinnen gesehen, wie sie über die Mauer kamen - Dämonen in der Gestalt von Menschen.
    »Es tut mir so leid.«

 
    KAPITEL 5
     
    G egenwart ...
    Hubert Mans traf mit seinem Streifenwagen, dessen rot-goldenes Warnlicht träge flackerte, vor Jean-Baptiste Simons Wohnung ein. Es war kurz nach vier Uhr morgens, und auf der Straße war kaum ein Fahrzeug zu sehen. Ein Junge auf einem Fahrrad verteilte Zeitungen mit der Meldung von politischen Unruhen im Iran, ein Bäcker machte seine Runden, und in der Ferne hörte man die typischen knirschenden Geräusche eines Müllwagens.
    Simon wartete in der Dunkelheit auf dem Bürgersteig. Ein Betrunkener lag schlafend vor dem benachbarten Café, das erst in drei Stunden seine Pforten öffnen würde.
    Er stieg in den Renault, und Mans fuhr schweigend durch die vom nächtlichen Regen immer noch nass glänzenden Straßen.
    Simon holte seinen Notizblock und den Schreibstift hervor. »Wurde schon jemand befragt?«
    »Nein«, erwiderte Hubert Mans. »Ich habe Inspektor Le Bon gebeten, den gesamten Bereich abzusperren und alle, die beteiligt waren oder irgendetwas gesehen haben, im Büro des Hafenmeisters festzuhalten, bis wir dort sind. Das IWS hat eine allgemeine Alarmbereitschaft verhängt. Auf allen Schiffen wird nach einem Wildtier im Wasser Ausschau gehalten.«
    Simon hatte keine Hoffnung für das Tier. Frachtkähne waren wie Supertanker - null Manövrierfähigkeit, schlechte Sicht. Am wichtigsten war für ihn die Zeitfrage. Wahrscheinlich war es längst zu spät, die Verschwörer am Tatort zu erwischen.
    Andererseits war das Auffinden und Bewerten von Beweisstücken immer ein Glücksspiel: teils Logik, teils Zufall. Hinweise konnten so subtil sein wie ein einzelnes Haar mit DNA-Spuren, ein fehlender Gegenstand oder ein nicht abgezeichnetes Frachtdokument oder sogar der Abdruck eines Handschuhs auf der vom Meerwasser feuchten Seitenwand eines aufgebrochenen Frachtbehälters.
    Nach zwanzig Minuten erreichten sie die Hafenverwaltung, rollten an den Büros der BLEU (Belgo-Luxemburg Economic Union) vorbei und fuhren weiter auf das weitläufige Hafengelände mit seinen Reihen unzähliger Container, die teilweise zu Türmen von fünfzehn bis zwanzig Stück aufeinandergestapelt waren. Düngemittel, Früchte, Stahl, Zucker, Lastwagenladungen neuer Mercedes-Limousinen, Getreide für Angola, registrierte Agrochemikalien, die ganze Lagerhäuser füllen konnten, erstreckten sich zig Kilometer weit. Außerdem an die vierhundert Millionen Zigaretten für China sowie siebzig Tonnen Zink aus Kanada, die auf ihren Weitertransport nach München warteten.
    Dann das Schild: ALFAPORT ANTWERPEN.
    Das Zentralbüro des Hafenmeisters, direkt über der Schelde, thronte über dieser Hegemonie europäischen Konsums. Es war, trotz allem, neben Rotterdam die historische Metropole des Imports und Exports.
    Als sie das geräumige, luftige Sekretariat betraten, zählte Simon außer dem Hafenmeister vierzehn weitere Personen. Keine von ihnen wirkte besonders erfreut. Hafenarbeiter, die vor anderthalb Stunden in ihrer Tätigkeit von etwas gestört worden waren. Es waren harte Kerle, mit denen nicht zu spaßen war.
    Jean-Baptiste Simon begrüßte müde seine uniformierten IWS-Kollegen, von denen die meisten vor ein paar Stunden noch mit ihm zusammengesessen und getrunken hatten. Allen gemeinsam war dieser Ausdruck verschlafenen Unmuts und gespannter Neugier. Etwas Ungewöhnliches war geschehen. Es war in der feuchtkalten Luft deutlich zu spüren.
    Der Hafenmeister selbst hatte nichts gesehen, aber alle

Weitere Kostenlose Bücher