Bestiarium
wertvollste und schönste gefeiert, die je stattgefunden hatte und von einer privaten Institution veranstaltet worden war. Mit ihren mehr als einhundert Exponaten - Gemälden, Musikinstrumenten, Landkarten und Globen, Briefen und seltenen Büchern - würde die Ausstellung niemals auf Reisen gehen. Die in einem solchen Fall zu zahlenden Versicherungsbeiträge wären einfach zu hoch.
»Der Anrufer meint, es sei dringend«, sagte Alicia.
»Wer ist es denn?«
»Er sagt, er sei Ihr Onkel. Das Display des Telefons zeigt als Anrufer-Identifikation einen 33er-Ländercode.«
Martin stoppte seine Flucht in die Lobby. Er hatte schon seit Jahren nichts mehr von James Olivier, dem einzigen Bruder seines Vaters Edward, gehört.
»Legen Sie das Gespräch in mein Büro, und tun Sie mir den Gefallen und rufen Margaret an und erklären ihr, ich käme ein paar Minuten später. Und denken Sie auch daran, Max zu sagen, er solle warten.«
Max war Martin Oliviers persönlicher Chauffeur. Mit dem Auto in London unterwegs zu sein war mittlerweile eine Zumutung und so gut wie unmöglich, zumindest für Leute wie Martin Olivier.
Martin hatte ein seltsames Gefühl in der Magengrube. Er hatte seit fast einem Jahr nicht mehr mit seinem Vater gesprochen. Es hatte kein spezielles Ereignis gegeben, das sie einander entfremdet hatte, sondern es war ein schleichender Prozess zunehmender Distanz, der niemals von ihnen direkt angesprochen wurde. Die Ursachen waren ziemlich kompliziert. Sie beide, Vater und Sohn, hatten grundlegend unterschiedliche Persönlichkeiten, deren Aufeinandertreffen entweder in ein beharrliches gegenseitiges Schweigen mündete oder sich in förmlich dargebotenen Höflichkeitsgesten ausdrückte, die Familien mit engerem Zusammenhalt große Sorgen bereitet hätten. Auf jeden Fall war die Zeit, seit sie sich das letzte Mal intensiv miteinander unterhalten hatten oder zusammen essen gegangen waren, von beiden ungenutzt verstrichen. Martin ging davon aus, dass sein Vater grundsätzlich missbilligte, dass er ins Immobiliengeschäft eingestiegen war, obwohl sein Vater niemals die genauen Gründe für seine offensichtliche Unzufriedenheit mit seinem Sohn offen zur Sprache gebracht hatte.
Anthony, Martins eigener Sohn, hatte seinen achtzehnten Geburtstag gefeiert und von seinem ständig die Welt bereisenden Großvater noch nicht einmal eine Glückwunschkarte erhalten. Das war absolut nicht typisch für Edward Olivier, der es bisher immer geschafft hatte, an seinem jeweiligen Aufenthaltsort eine einzigartige Reliquie zu finden und seinem Sohn oder seinem Enkel zukommen zu lassen. Er begeisterte sich für großzügige und unerwartete Geschenke, die seine enge Verbindung zur Natur symbolisierten: kunstvoll bearbeitete Steine aus Afrika, Federn von einem seltenen Wasservogel aus Neuseeland, ein ungewöhnliches Fossil aus Brasilien. Einmal hatte Martin einen Käse aus einem Kloster in Frankreich erhalten, von den Mönchen handgeschöpft und in edelstem Rinderurin fermentiert. Er roch auch entsprechend. Wie das Paket es geschafft hatte, unbehelligt den Postweg zu überstehen, hatte Martin eigentlich nie richtig begreifen können.
Und dann war da jenes extravagante vierbändige Nachschlagewerk mit handkolorierten Chromolithografien vom Beginn des 19. Jahrhunderts, in dem sämtliche Vögel, »die man nicht in England antreffen kann«, aufgeführt waren. Die Farbreproduktionen waren in einem einwandfreien Zustand, und sein Wert wurde bei abe.com auf 2500 Pfund geschätzt.
Edwards Geschenke bestanden häufig aus teuren Tierbüchern. Jetzt erhielt Anthony sie, so wie Martin sie in seiner Jugend bekommen hatte. Martin hatte einmal versucht, seinen Vater von dieser seltsamen Gewohnheit abzubringen, indem er, als er achtzehn wurde, den innigen Wunsch nach einem Ford Mustang geäußert hatte, statt mit Buffons Histoire Naturelle bedacht zu werden, einem fünfzehnbändigen Werk, das in der Mitte des 18. Jahrhunderts veröffentlicht worden war und die vollständigste Aufzählung unterschiedlicher Mückenstiche und umfassendste Darstellung der Ernährungsgewohnheiten von Feuersalamandern enthielt, die je in Buchform erschienen waren.
»Wusstest du«, hatte Anthony kurz nach seinem elften oder zwölften Geburtstag einmal seinem Vater erzählt, »dass Fledermäuse keine Fliege verzehren, ohne vorher ihre Flügel entfernt zu haben, weil sie sie für ungenießbar halten?«
»Guter Witz«, erwiderte Martin damals amüsiert und verspürte ein
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