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Bestiarium

Bestiarium

Titel: Bestiarium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Tobias
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betraf, waren die Legenden sich einig - in ihm steckten medizinische Zauberkräfte, die das Leben unbegrenzt verlängerten, die zahlreiche Gifte unwirksam machen konnten, und aus seiner samtartigen Haut ließ sich das stärkste bekannte Aphrodisiakum herstellen. Ein solches Tier hatte einen fast unschätzbaren Wert.
    Vor 15 000 Jahren stießen die Überlebenden der Eiszeit wiederholt auf das Wollnashorn, oder Coelodonta antiquitatis, wie es von Taxonomen auch genannt wurde. Und es war möglich, dass einige schon einmal von seinem pferdeähnlichen Verwandten gehört hatten, dem Elasmotherium, einem mit nur einem Horn bewehrten urzeitlichen Nashorn, das in den östlichen Steppen Europas, dem heutigen Russland, lebte. Das Tier war riesengroß, ernährte sich ausschließlich vom Laub der Bäume und wurde von jeher als »Rieseneinhorn« bezeichnet. Bis zum Jahr 10 000 vor Christus war es ausgestorben, wohingegen zahlreiche Büffelarten mit ihrem unterschiedlichen Gehörn die Legende weiterleben ließen. Einige waren blauschwarz. Keine dieser Arten konnte mit einem Pferd verwechselt werden, aber einige - wenn sie sich mit afrikanischen Rindern vermischten - waren möglicherweise weiß. Aldrovandi, ein italienischer Maler des späten 16. Jahrhunderts, hatte sowohl ein- wie auch zweigehörnte Lebewesen gemalt, die er Pirassouppi und Camhurch nannte. Letztere Kreatur hatte hinten Schwimmfüße wie eine Ente und den Körper eines verwilderten Hundes, allerdings ohne die prächtige Farbzeichnung heutiger afrikanischer Wildhunde. Eher glich sie dem struppigen rostfarbenen südindischen Wildhund. Das Pirassouppi bewegte sich hingegen mit der Eleganz eines Lipizzaners.
    Jean-Baptiste Simon wusste nicht, was er davon halten sollte.
    Mittlerweile hatte der örtliche Chefinspektor, Paul Le Bon - ein hochdekorierter Polizeioffizier, der an Beratungen der Vereinten Nationen über weltweit operierende Verbrechersyndikate teilgenommen hatte und mit der Interpol Hand in Hand arbeitete -, die Hauptdocks mit einem dichten Polizeikordon abgeriegelt und ließ das Gelände von Beamten Kiste für Kiste durchsuchen.
    Hubert Mans und Jean-Baptiste Simon wurden zu dem fraglichen Container geführt. Er war völlig zertrümmert, Stahlbolzen, Scharniere und Nägel waren verbogen. Der schwer beschädigte Stahldeckel war etwa zwei Zentimeter dick. Die Überreste waren mit einem Code aus Buchstaben und Zahlen versehen. Dieser Code, berichtete der Hafenmeister, entspreche der Eintragung in der Protokolldatei des Computersystems, die alle vierundzwanzig Stunden aktualisiert werde und die jeweiligen Positionen von über einer Viertelmillion Container und Frachtkisten anzeige.
    »Der Container wurde vor vier Tagen außerhalb von Paris verladen«, sagte der Hafenmeister. »Das steht zweifelsfrei fest. Zusammen mit einhundertvierundzwanzig weiteren Luxusautos, und zwar Mercedes- und Jaguar-Limousinen.«
    Kein anderer Behälter wies irgendwelche Beschädigungen auf. Das Tier hatte sich mit wilden Tritten selbst aus seinem Gefängnis befreit.
    Unmöglich, dachte Simon und spielte das Szenario in Gedanken durch.
    Das Horn eines jungen Nashorns hätte niemals dem Stahl der Containerwände standhalten können. Und ein erwachsenes Tier hätte nicht genug Platz gehabt, um eine ausreichende Stoßwirkung zu entfalten, um ausbrechen zu können.
    An diesem Punkt seiner Überlegungen fiel Simon an der zerstörten Stahlwand etwas auf. Etwas oder jemand hatte dem Tier die Flucht erleichtert. Mit dem Finger deutete Simon auf die Stellen, an denen Bruchlinien mit einem Schweißbrenner oder einem pneumatischen Bohrer vergrößert worden waren.
    »Wohin sollten diese Fahrzeuge geliefert werden?«, wollte Simon von Le Bon wissen, der sich sämtliche Frachtpapiere vom Hafenmeister hatte aushändigen lassen.
    »In die Vereinigten Arabischen Emirate.«

 
    KAPITEL 6
     
    M artin Olivier war soeben im Begriff, sein Büro in der Bond Street zu verlassen, um Mittag essen zu gehen, als seine Sekretärin, Alicia, ihm mitteilte, er werde am Telefon verlangt.
    »Schreiben Sie auf, was der Anrufer möchte«, sagte Martin zerstreut. Er war mit seiner Frau Margaret in einer privaten Kunstgalerie verabredet, wo sie als Kuratorin eine Ausstellung flämischer Werke der Renaissance betreute. Die Präsentation hatte auf der ganzen Welt begeisterte Kritiken bekommen. Nach der Fra-Angelico-Retrospektive im Metropolitan Museum in New York Ende 2005 wurde diese Ausstellung als die vollständigste,

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