Betreutes Wohnen: Ein WG-Roman (German Edition)
Zunge abbeißen können, das ist das Gefährliche bei dieser Art von Anfällen, erfahre ich später. Darum heißen sie ja auch Grand Mal, was sich irgendwie nach dämonischer Besessenheit anhört, aber so sieht es ja auch aus.
Unglücklicherweise ist das Ding in seinem Mund das hochsensible Steuermodul eines extrem wendigen und schnellen Hochtechnologierollstuhls. Und während Rashid durch die zusammengebissenen Zähne nach Luft ringt, macht das Gerät einen schnellen Satz nach vorn, reißt einen Tisch um und surrt mit ungebändigter Geschwindigkeit auf die Besuchergruppe zu.
Es ist Günther, der in diesem Moment in aller Seelenruhe beginnt, die Doppelflügel der Eingangstür zu öffnen, und nachdem Rashid den Generalsuperintendenten wie ein Stier auf die Hörner genommen hat und das Concerto seinem Höhepunkt entgegendröhnt, rauschen die beiden durch die offene Tür ins Freie, wo die Höllenmaschine im flachen Wasser des Springbrunnens vor der Werkstätte schlussendlich und unwiderruflich zum Stehen kommt. Sie ist nämlich kaputt.
Später, als die Aufregung des Tages sich gelegt hat und ich Günther beim Schneiden seiner Zwiebel betrachte, wie ich es jede Woche tue, werde ich ihn fragen, wie um alles in der Welt er hat ahnen können, dass sich Rashids Gefährt verselbstständigen und ausgerechnet in diese Richtung ausbrechen würde. Günther wird sein Messerchen zur Seite legen, mich lange aus seinen kleinen, leicht geschlitzten Augen anschauen, und dann wird er mir ganz sacht die Hand tätscheln, wie man es bei kleinen Kindern tut, die unvermutet eine tiefschürfende Frage gestellt haben, deren Antwort und Bedeutung sie aber beim besten Willen noch nicht ermessen können. Sagen tut er natürlich nichts, denn angeblich kann er ja nicht sprechen.
Rashid erholt sich recht schnell von seinem Anfall, und der Generalsuperintendent überspielt den Unfall mit der eisernen Jovialität des geübten Öffentlichkeitsarbeiters.
Seine Hosenbeine sind nass und er humpelt ein bisschen, als er sich verabschiedet, aber vorher schlägt er noch eine rhetorische Brücke zwischen dem Unfall und der Notwendigkeit unbedingten Gottvertrauens und kommt schließlich bei Jesus am Kreuz heraus, der habe ja auch undsoweiter.
Ich bewundere das, wie diese Kirchenjungs aus dem Stand nach drei Sätzen punktgenau bei Jesus landen; andererseits ist es ja ihr Beruf.
Rashid hat ein Medikament bekommen, damit die Verkrampfungen sich lösen, aber selbst durch seine Benommenheit brodelt Begeisterung. Er ist ganz offensichtlich hochzufrieden mit seinem Auftritt.
Wir ziehen den Rollstuhl aus dem Teich, schnallen Rashid wieder darin fest und schieben ihn über die Rampe in den Bully. Er gurgelt etwas, das entfernt an Sprache erinnert.
»Er freut sich darauf, es Sarah zu erzählen«, übersetzt der Fahrer.
»Sarah?« frage ich elektrisiert.
»Ja«, sagt der Mann. »Sarah. Arbeitet an seiner Schule. Er ist verknallt in sie.«
Rashid grinst und versucht den Kopf zu schütteln.
»Ich weiß, in Cindy Crawford.«
Rashid kräht Zustimmung. Das ist mir doch egal, was der von Cindy Crawford hält, hier geht es um Sarah.
»Sarah?« rufe ich, »Sommersprossen, leicht rötliches Haar mit einem Wirbel rechts oberhalb der Stirn. Wunderschöne Stimme, etwas belegt, aber das kann auch daran liegen, dass wir so lange draußen gesessen haben.«
»Könnte sein.«
»Milchweißer Teint. Mein Gott, sie muss so zarte Haut haben, nicht dass ich sie angefasst hätte, wir kennen uns ja kaum, wir haben uns nur unterhalten. Ich hätte nie gedacht, dass ich so auf Rothaarige stehe. Ich habe es ja nicht einmal bemerkt, als ich neben ihr saß.«
»Das denkt niemand vorher, passiert einfach«, sagt der Mann und zieht das Foto einer Rothaarigen aus seiner Brieftasche. Es ist nicht Sarah.
»Das ist meine Frau«, sagt er. »Bis ich sie getroffen habe, dachte ich …«
»Ja, sehr schön«, unterbreche ich. »Aber was ist mit Sarah?«
Rashid gurgelt etwas Unverständliches, der Fahrer beugt sich zu ihm hinunter, die beiden besprechen sich.
»Er will das T-Shirt haben«, sagt der Fahrer schließlich.
»Welches T-Shirt?«
»Deins.«
»Warum?«
»Du willst etwas über Sarah wissen und Rashid sammelt Shirts von Rockbands. Bad Religion hat er noch nicht.«
»Das ist Erpressung.«
Rashid macht Geräusche. Sie klingen zustimmend.
»Das weiß er.«
Ich schaue hilfesuchend den Fahrer an.
»Ich bin nur der Fahrer hier.«
Rashid lässt ein röchelndes Kichern vernehmen.
Weitere Kostenlose Bücher