Betrügen lernen
fangen wird. Das Feuer glimmt schon. Vielleicht kommt einer der Trapper vorbei, die hier alle zwei Monate mit ein paar Fellen und Pelzen zu den großen Handelsrouten ziehen. Er wird dann mit einem von ihnen am Feuer sitzen, und sie werden lange miteinander schweigen und das gute Gefühl haben, dass es echte, wahre Freundschaft, die auf tiefem gegenseitigem Einverständnis beruht und nicht alles zerreden muss, nur unter Männern gibt.
Das Telefon klingelt. Alex will erst nicht drangehen, denn in den Wäldern tief hinter den sieben Bergen bei den Trappern und Fallenstellern gibt es kein Telefon, nicht mal ein Mobilfunknetz, andererseits könnte es auch seine Mutter sein, die anruft.
Es ist Dorothee.
»Gut, dass ich dich erwische, Alex. Du kannst es dir nicht vorstellen, aber Martin will nicht zu eurem Fest kommen. Er will überhaupt nicht kommen.«
»Also er kommt nicht, heißt das?«, fragt Alex, der die Steigerung von nicht kommen zu überhaupt nicht kommen nicht sofort versteht.
»Nein, garantiert gar nicht.«
Das klingt mächtig entschlossen, und Dorothee wird Alex sicher gleich darüber aufklären, warum Martin offenbar besonders entschieden und bestimmt nicht und auf gar keinen Fall partout nicht kommen will.
Die Logistik geht für Dorothee allerdings vor. »Ihr müsst euch endlich überlegen, ob ihr nicht noch andere Männer einladen wollt«, sagt sie. »Es geht ja sonst nicht auf, und dann sitzt irgendwo eine Frau ohne Tischherren herum. Wenn das so weitergeht, sind mehrere Damen beim Fest ohne Begleitung.«
»Das entscheiden wir kurzfristig«, sagt Alex. »Die Männer-Frauen-Quote können wir auch am letzten Tag noch korrigieren.«
»Ich will aber nicht irgendeinen Dahergelaufenen von der Straße, den du kurz zuvor angesprochen hast.«
Dann erläutert sie ihm die näheren Hintergründe von Martins plötzlichem Gesinnungswandel. Er hat offenbar den Kontakt zu allen Freunden abgebrochen, konsequent. Er will allen weltlichen Genüssen abschwören. Einen radikalen Schlussstrich ziehen. Gut, ein bisschen eigen sei er ja vorher schon gewesen, meint Dorothee. Er hat eine Stelle als Forschungsleiter im Labor und verschleißt im Jahr mehrere MTA. Sie halten es einfach nicht lange mit ihm aus, weil er so penetrant schweigsam ist. Er redet so gut wie gar nicht. Er druckt seinen Mitarbeiterinnen die Versuchsanleitungen aus, gibt sie ihnen mit einem knap pen »Hier!« und spricht dann kein Wort mehr, bis die Er gebnisse vorliegen. Meistens gibt es aber keine Ergebnisse, denn die Mitarbeiterinnen kündigen schon, bevor sie eine Versuchsreihe beenden können.
Manchmal vermutet Alex, dass Martin seine Laborforschung nur dazu benutzt, um ein viel größeres Experi ment abzuschließen. Was Martin mit seinen Mitarbeitern macht, erinnert Alex frappierend an die Waisenkinder, die der Stauferkaiser Friedrich II. im 13. Jahrhundert angeblich ohne jede menschliche Zuneigung großziehen ließ. Sie bekamen zwar genügend zu essen und zu trinken, aber jeder Kontakt, jede Berührung, jede Form der Wärme, ja sogar jedes Wort, wurde ihnen verwehrt. Glaubt man der Überlieferung, hat keines der Kinder diesen Entzug aller Gefühle und der Sprache überlebt. So weit kommt es bei Martins Mitarbeitern noch nicht, sie wechseln den Arbeitsplatz, bevor die Auswirkungen schlimmer werden können.
Seinen Urlaub verbringt Martin traditionell immer allein in einem Schweizer Schweigekloster. Dorthin zieht er sich jeden Sommer für vier Wochen mit ein paar Büchern höherer Mathematik zurück. Man kann sich nicht vorstellen, dass er Schwierigkeiten hat, sich einen Monat an das Schweigegelübde zu halten. Wahrscheinlich spricht er, allein um die Formalitäten bei der Ankunft und Abreise zu regeln, mehr als an manchen Monaten im Labor.
Insofern ist Martins Wandlung nicht völlig überraschend gekommen. Man muss seine Entscheidung wohl eher als eine Weiterentwicklung verstehen, hin zu einer höheren Stufe der verbalen Entsagung und des Verzichts. Jetzt will er zurück zum Ursprung, was immer er darunter versteht – wahrscheinlich die Kommunikationsbereitschaft einer Amöbe oder anderer Einzeller, die er im Labor unter dem Mikroskop untersucht.
Dorothee erzählt, Martin sei offenbar gerade damit be schäftigt, sich ohne jegliches Werkzeug und nur mit den bloßen Händen ein primitives Boot zu bauen. Damit will er demnächst den Atlantik überqueren, wenn Dorothee in ihrer Aufregung nicht den Ozean verwechselt hat. Er will dann nach ein paar
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