Beverly Barton, Hexenopfer
zu. Durch zwei hohe Doppelfenster in den Außenmauern strömte Licht in die Küche. Genny betätigte den Schalter, um zu prüfen, ob Strom vorhanden war. Genau wie sie erwartet hatte, war keiner da. Sie machte sich daran, den Kaffee in einem alten Eisenkessel zuzubereiten, den sie dann auf den Gasherd stellte. Während der Kaffee kochte, machte sie den Pfannkuchenteig. Auf diese Weise beschäftigt, versuchte sie, nicht an die Vision von diesem Morgen zu denken, doch die Szene spielte sich immer und immer wieder vor ihrem geistigen Auge ab.
Noch eine junge Frau tot. Genny hatte sehen können, dass die Frau noch ziemlich jung war, denn ihre Brüste waren fest, ihr Körper geschmeidig. Wer war diesmal umgebracht worden? Und wo? Das erste Opfer war auf einem provisorischen Altar im Wald abgeschlachtet worden. Diesmal jedoch war der Altar kunstvoller gewesen, ähnlich denen, wie sie in Kirchen standen.
Oh Gott! Farbiges Licht. Buntglas. Ein mit Schnitzereien verzierter Altar. Hatte er diese Frau in einer Kirche ermordet? In einer Kirche in Cherokee Pointe?
Gennys Hände zitterten. Ein rohes Ei entglitt ihren Fingern, fiel zu Boden und verspritzte seinen klebrigen Inhalt über die breiten Dielen. Sie beeilte sich, die Schweinerei aufzuwischen und mit der Zubereitung der Pfannkuchen fortzufahren. Für das zweite Opfer konnte sie absolut nichts tun, so wie sie für Susie Richards nichts hatte tun können. Warum, Herrgott? Warum schenkst du mir diese unglaubliche Gabe und lässt nicht zu, dass damit Leben gerettet werden?
Eine Viertelstunde später gesellte sich Dallas zu ihr an den Küchentisch. Sein dichtes, wirres Haar war noch feucht, und die einen Tag alten, braunen Bartstoppeln verliehen seinem rauen, guten Aussehen etwas Verwegenes. Seine dunkle Hose und das weiße Hemd waren zerknittert, doch die etwas ungepflegte äußere Erscheinung schien ihn keineswegs zu stören. Und komisch, Genny fand ihn deshalb umso anziehender.
»Irgendwas riecht hier ziemlich gut«, sagte er.
»Bitte setzen Sie sich doch. Alles ist fertig.«
Sie setzten sich einander gegenüber an den großen, runden Tisch, aßen relativ schweigend und wechselten nur gelegentlich Blicke. Während Genny in ihrem Essen stocherte, aß Dallas mit Appetit und bat um Nachschlag.
»Möchten Sie noch eine Tasse Kaffee?«, fragte sie und stand auf.
»Bleiben Sie sitzen«, erwiderte er. »Ich sollte Sie bedienen. Schließlich haben Sie für uns gekocht.«
»Ich muss sowieso aufstehen. Drudwyn und die anderen müssen gefüttert werden.«
»Die anderen?«
»Die Eichhörnchen, Waschbären, Vögel und andere Wildtiere, die bei solchem Wetter auf mich angewiesen sind.«
»Sie müssen eine ziemliche Futterrechnung haben, wenn Sie alle Tiere da draußen im Wald versorgen.«
»Ich habe mehr Geld, als ich brauche, also teile ich es mit anderen.«
Dallas beendete sein Frühstück, leerte die vierte Tasse Kaffee, räumte das Geschirr ab und stellte es in die Spüle. Er schaute aus dem Fenster und sah Drudwyn durch den Schnee rennen, verspielt und ausgelassen, trotz der eisigen Kälte. Dann erhaschte er einen Blick auf Genny. Sie trug einen schweren, schwarzen Wollmantel über ihrem Schlafanzug und dem Morgenmantel, dicke Gummistiefel an den Füßen und eine schwarze Wollmütze, die sie sich über die Ohren gezogen hatte. Sie stand in der Mitte des Hinterhofs und war umgeben von allen möglichen Tieren. Eichhörnchen. Waschbären. Beutelratten. Zwei Füchse. Ein Reh. Ein silbergrauer Wolf. Und Vögel, die auf ihren Schultern und dem ausgestreckten Arm hockten.
Dallas blinzelte, weil er glaubte, nicht richtig gesehen zu haben. Aber es war keine Einbildung. Es war echt. Genny Madoc hatte die wilden Tiere des Waldes verzaubert. Sie kamen zu ihr wie Kinder zu ihrer Mutter. So etwas hatte er noch nie gesehen. Und obwohl er es jetzt mit eigenen Augen sah, fand er es unbegreiflich.
Ein komisches Gefühl traf ihn in der Magengrube. Er hatte sie im Scherz als eine Hexe betrachtet, die ihn am Abend zuvor mit einem Zauber belegt hatte. Als er sie jetzt sah, in dieser Umgebung, mit einer Horde verzauberter Tiere um sich, fand Dallas den Gedanken, dass Genny eine Art überirdischer Macht besaß, nicht mehr so lustig.
Reiß dich zusammen, Sloan, sagte er sich. Genny ist keine Hexe, denn Hexen gibt es nicht. Sie hat weder dich noch die Tiere verzaubert. Du findest sie sexuell anziehend. Und was die Tiere betrifft – wahrscheinlich füttert sie die schon seit Jahren. Ja, so
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